Tempolimit…und bei Dir so?

Lesedauer: Keine Ahnung. Ich habe sie nicht gestoppt 😉

„Aber gerade DU magst es doch schnell…“ hat mein Kollege mit hochgezogenen Augenbrauen gesagt als wir neulich darüber diskutiert haben, warum es so schwer ist, in Deutschland ein Tempolimit durchzusetzen. Ja, da hat er recht – ich mag es schnell. Schnell denken und reden, schnelle Reaktionen, schnell noch eine Pressemitteilung schreiben, die nächste Aktion planen und nebenher am besten noch schnell einen Kuchen backen. Wir, hier in unserem Lebensraum, im kleinen Kosmos der Nichtregierungsorganisationen, im politischen Feld, in Berlin, in Deutschland…wir mögen es schnell. Hinterfragt wird das erst, wenn wir irgendwann nicht mehr können – als Gesellschaft oder als Individuum. Es gefällt uns, die Geschwindigkeit, die Beschleunigung zu spüren, weil sie uns ein Gefühl von Lebendigkeit, von Einfluss, von Bedeutung, vielleicht sogar von Macht vermittelt.

Schnell? Langsam? Auf jeden Fall schön. Autobahn, Schottland.

„Mein Maserati fährt 210…“

Mal ehrlich, Geschwindigkeitsrausch ist schon ein bisschen 80er, oder? „Ich will Spaß, ich geb‘ Gas…“, das Lied war damals schon albern und löst heute neben Lachen auch Kopfschütteln aus, aber der Inhalt stimmt für viele nach wie vor. Das gilt besonders fürs Autofahren. …Auf den Autobahnen nur noch maximal 130 km/h fahren dürfen? In vielen Ländern ist das schon Realität. Nur in Deutschland schaffen unsere Vertreter*innen im Parlament es nicht, sich zu einem Tempolimit durchzuringen. Der Bundestag hat kürzlich den Vorstoß der Grünen mehrheitlich abgelehnt: Nur 126 von 631 Abgeordneten stimmten dafür.

Es sind nicht nur die Lobbyisten

Absurd, oder? Denn ein Tempolimit würde weniger Lärm, weniger Unfälle, weniger dichten Verkehr UND weniger CO2-Austoß bedeuten. Und trotzdem tut sich die deutsche Politik so schwer damit. „Lobbyist*innen, vor allem der Autoindustrie, haben unsere Demokratie im Griff.“ Das ist die naheliegendste Antwort darauf und sie ist sicher nicht falsch.

Aber da ist noch mehr: Unsere inneren Strukturen vertragen sich nicht gut mit einem Tempolimit. Schnelligkeit und Effizienz sind in unserer Gesellschaft hohe Werte. Der Sympathikus, das „Gaspedal“ unseres Nervensystems, der für Aktivität zuständig ist, ist bei vielen Menschen überaktiv.

Aus Sicht des Kundalini-Yoga ist es nicht notwendig, diese Aktivität zu dämpfen, da sie uns in vielen Situationen auch nützlich ist. Aber wer gut beschleunigen kann muss auch gut bremsen können: Die „Bremse“ unseres Nervensystems, der Parasympathikus, der die Regeneration steuert, die Verdauung anregt und uns entspannt, muss gestärkt werden.

Durchhaltevermögen und ständige Hochleistung sind die üblichen Vergleichskriterien, um alle Menschen und ihre Arbeit zu bewerten. Es ist notwendig, nach innen zu gehen und sich zu erholen.“

Yogi Bhajan/Gurucharan Singh

It’s Adrenalin, Baby!

„Wer das erste Mal in einem dieser hoch getunten Kolosse sitzt und auf mehr als 200 Stundenkilometer beschleunigt, der spürt den Kick, das Adrenalin“, schrieb Thomas Hummel in der Süddeutschen.

Adrenalin – das ist das Stresshormon, das von unseren Nebennieren ausgeschüttet wird, wenn wir auf kurzfristigen Stress reagieren. Es wirkt wie eine körpereigene Droge – und das kann in Maßen durchaus als angenehm empfunden werden. Beim Autofahren ebenso wie beim Arbeiten oder Kommunizieren oder „Konsumieren“ von Erlebnissen wie einer Achterbahnfahrt. Von der Evolution ist dieser Adrenalin-Kick eigentlich dafür gedacht, Menschen kampf- und fluchtfähig zu machen. Kortisol, ebenfalls von den Nebennieren produziert, lässt uns langfristigen Stress aushalten. Stress – also Anspannung, Aktivierung über das normale Niveau hinaus – ist nicht per se schlecht. Er kann uns helfen, uns weiterzuentwickeln, zu wachsen, uns zu schützen, zu überleben…

Wenn Schnelligkeit zum Wesenszug wird

Schwierig wird es, wenn der Stress zur Normalität wird. Wenn wir nicht mal nur ein paar Minuten schnell über die Autobahn rasen oder mal ein paar Stunden im Stakkato auf allem Kanälen kommunizieren, also nicht nur vorrübergehend, sondern immer schnell sind. Im Spanischen wird die unterschiedliche Qualität von SEIN sehr schön deutlich durch die Unterscheidung von estar (= sein, im Sinne von sich befinden, sich aufhalten) und ser (= sein, im Sinne von existieren, die Eigenschaft haben). Wenn Schnelligkeit von einem momentanen Zustand zu einem Wesenszug wird, dann ist das in der Regel nicht gesund.

Wenn unser Nervensystem und unser Körper anhaltenden Stress ausgesetzt sind, können zwei Dinge passieren:

  • 1. Wir „merken es nicht mehr“. Der Rauschzustand beim schnellen Fahren zum Beispiel hält nur gut zwanzig Minuten an, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. „Wie neurobiologische Forscher herausfanden, schaltet das Gehirn schnell um, weil es sonst zu viel Energie benötigt. 220 km/h sind dann Routine. Ganz normal.“ Wenn Schnelligkeit, Effizienz, ständige Steigerung, ständige „Weltbeherrschung“ zur Routine werden, dann brauchen wir irgendwann mehr davon. Eine Kicksteigerung, noch mehr Action…und den doppelten Espresso oder den fünften Club Mate, um mit unserem eigenen Tempo mithalten zu können.
  • 2. Unser Körper kommt aus dem Gleichgewicht. Das kann sich zum Beispiel auf die Organe auswirken. Wenn wir uns Dauerstress aussetzen, erschöpfen sich die Nebennieren – ein „Burnout“ hat oft nicht nur psychische, sondern auch körperliche Ursachen. Auch die Amygdala („Mandelkern“) – ein Teil des limbischen Systems in unserem Gehirn, von wo aus unsere unbewussten Reaktionen gesteuert werden – wird durch chronischen Stress überaktiv. Sie meldet dann ständig Gefahr, auch wenn gar keine reale Bedrohung vorhanden ist. Instinktive Reaktionen, die uns ursprünglich das Überleben sichern sollten, funktionieren nicht mehr richtig, sondern wenden sich gegen uns. Statt unser Leben sicherer zu machen führen sie zu Erschöpfungszuständen oder Angststörungen.

Und nun? Stop mal kurz!

Die gute Nachricht ist: Wir müssen gar nicht immer schnell sein. Sobald wir uns bewusstwerden, wann und warum wir schnell sind, können wir einfach bremsen. Warum brauchen wir eigentlich die Politik und die Androhung von Strafgeldern, um die Geschwindigkeit zu drosseln? „Die Autobahn empfinden manche als Ort der letzten Freiheit, hier darf man noch wild und ungestüm sein.

Nicht zufällig besteht die große Mehrzahl der Tempolimit-Gegner aus Männern jüngeren und mittleren Alters. Dazu die schlichte Gewohnheit: 220 km/h – na und? Wie soll ich sonst auch all meine Termine schaffen? Das Rasen auf den Autobahnen gehört hier zum German way of life.

Thomas Hummel in der Süddeutschen

Stimmt alles. Und es liegt in unserer Macht, das zu hinterfragen. Wir können nämlich selbst mit schnellen Autos einfach langsamer fahren. Eine Mehrheit der Deutschen spricht sich zumindest schonmal dafür aus…Und schönerweise reicht unser Einfluss weit über die Autobahnen hinaus.

Innerlich bremsen

Wir können einfach mal ausprobieren, was passiert, wenn wir eine Deadline nicht einhalten oder etwas, das wir unbedingt noch heute erledigen wollten, nicht schaffen – es passiert nämlich in der Regel…nichts Schlimmes. Höchstens eine Irritation, vielleicht auch Verärgerung beim Gegenüber, die vielleicht auch zu der Frage führt: Warum funktioniert das nicht wie geplant? Was läuft da schief? Bewusstsein dafür, dass etwas zu viel oder nicht stimmig war…

Angeln gehen? Einfach nur am Strand sitzen tut es auch…

Wir können uns selbst wieder beibringen, innerlich zu bremsen. Zum Beispiel durch regelmäßige Meditation und/oder Yoga-Praxis. Aber man kann noch viel einfacher anfangen. Hier 5 Tipps für mehr Langsamkeit und Bewusstheit.

  • 1. Tief und vollständig atmen: Es kann schon helfen, mehrmals am Tag ein paar bewusste tiefe Atemzüge zu nehmen. Stell Dir vor, Du willst Dich beim Atmen ganz mit Ruhe und neuer Energie anfüllen. Atme durch die Nase. Beim Einatmen zuerst den Bauch rund werden lassen, dann die Rippen ausdehnen und zum Schluss den Brustkorb bis zu den Schlüsselbeinen mit Luft füllen. Dann in umgekehrter Reihenfolge wieder ausatmen: Also erst aus dem Bereich der Schlüsselbeine, dann aus dem Rippenbereich und am Schluss aus dem Bauch die Luft aktiv ausatmen – der Bauch wird dabei leicht eingezogen.

Der Atem und das Wort stehen in enger Verbindung. Sie bilden die Plattform, von der aus alle Dinge ihren Anfang nehmen, und sie gestalten Form und Richtung im Leben eines Menschen. Sie bestimmen unsere Kommunikation und die Beziehung zu uns selbst und anderen.

The Aquarian Teacher.
  • 2. Einfache Atemübung zur Entspannung oder vor dem Schlafengehen: Die Linke-Nasenloch-Atmung kann man ganz einfach zwischendurch machen, selbst in der Mittagspause im Büro. Setz Dich dazu bequem hin, am besten im Schneidersitz auf den Boden oder mit geradem Rücken auf einen Stuhl. Richte Dich gerade auf also ob Dich am Scheitel ein Faden in die Höhe zieht. Verschließe mit dem Daume der rechten Hand das rechte Nasenloch, die Finger der rechten Hand zeigen nach oben. Die linke Hand kannst Du mit der Handfläche nach unten auf Deinen Knien ablegen. Die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger der linken Hand liegen aneinander (Gyan-Mudra). Jetzt atme sanft und vollständig durch das linke Nasenloch ein und aus – wie oben beschrieben den Bauch und den gesamten Brustkorb füllen und leeren. Schließe die Augen und schaue „von innen“ auf den Punkt zwischen den Augenbrauen. Mache das 1-3 Minuten.
  • 3. Bewusst essen und ausgiebig kauen: Die Körperfunktionen beim Essen sind unmittelbar mit Entspannung verknüpft. Der Vagus-Nerv, ein wichtiger Teil des vegetativen Nervensystems, der für Entspannung zuständig ist, stellt eine direkte Verbindung zwischen Stammhirn und Magen dar. Wenn wir also entspannt essen, wirkt sich das positiv auf unser Nervensystem aus. Umgekehrt wirkt sich Stress bei einem Großteil der Menschen negativ auf die Verdauung aus. Auf jeden Fall gilt: Gründlich kauen macht Sinn. Man sollte bis zu 30 mal kauen, bevor man schluckt. Schafft ihr das? Ich finde es eine echte Herausforderung. Dabei hat es noch weitere positive Nebenwirkungen: Die Nahrung wird besser zerlegt und schon im Mund können Kohlehydrate besser aufgenommen werden – die anderen Verdauungsorgane haben dann weniger zu tun, das Essen „liegt einem nicht so schwer im Magen“. Wenn man grundsätzlich langsamer isst und besser kaut stellt sich auch schneller ein Sättigungsgefühl ein. Übergewicht wird damit viel unwahrscheinlicher.
  • 4. Bewegen/gehen/laufen/tanzen: Rhythmische Bewegung sorgt dafür, dass sich unser Gehirn entspannen kann. In der Mittagspause – allein oder zumindest ohne viel zu reden – spazieren gehen. Morgens oder abends eine Viertelstunde joggen. Freestyle tanzen – also ohne Choreografie und große Konzentration. Laufen oder Radfahren statt die S-Bahn oder das Auto zu nehmen…Bewegen, ohne viel dabei denken zu müssen, hilft Stress abzubauen.
  • 5. Tun, was Dir Freude macht: Freude ist etwas anderes als der Spaß aus dem oben erwähnten 80er Jahre-Lied. Langsamer, nachhaltiger, unaufgeregter, irgendwie besser…Wann hast Du das letzte Mal die Zeit vergessen? Also vergessen auf die Uhr zu schauen, vielleicht sogar irgendetwas „verpasst“? Manchmal sind wir so in eine Tätigkeit oder das Bei-einander-Sein versunken, dass Schnelligkeit einfach keine Rolle mehr spielt, dass wir komplett in der Gegenwart bleiben. In solchen Momenten haben wir eine Ahnung davon, dass wir eigentlich schon ganz und vollständig SIND.

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