Ich hätte nie gedacht, dass ich mal laut über die Tatsache jubeln würde, dass eine Drohne über der Wiese vor dem Reichstag fliegt. Die Wahrscheinlichkeit eines Drohnen-Flugs über der Reichstagswiese auch ziemlich gering. Noch geringer die Wahrscheinlichkeit, dass Polizei und Sicherheitskräfte nicht sofort Alarm schlagen… Ausgerechnet eine Drohne (für mich sonst eher ein Sinnbild für Technisierung, Entfremdung, Unberührbarkeit) hat am 15. November geholfen, ein Bild menschlicher Verbundenheit in die Welt zu schicken. Die Strahlkraft des Bildes hat mich schon durch einige trübe Novembertage getragen und hält weiter an.

Schönheit hilft…
…weil sie Menschen auch auf der nicht-intellektuellen Ebene erreicht, sie zum Hinsehen bringt. Eine riesige Spirale, gebildet von hunderten von Menschen, die sich vor dem Reichstag ent-wickelt, in perfekter Linienführung zu den Stufen des Reichstags hin öffnet und dann, wenn man die Menschenkette optisch verlängert, eine Brücke zur gläsernen Kuppel des Gebäudes schlägt. Dort dreht sich über den Köpfen der Abgeordneten ebenfalls eine Spirale.
…und ein bisschen Größenwahnsinn kann nie schaden
Eine lebendes Kunstwerk für die Demokratie – gestaltet von und mit hunderten von Menschen. Ein Symbol für die Gestaltungskraft der Bürgerinnen und Bürger, das zugleich eine Brücke in den Bundestag, zu unseren Vertreter*innen schlägt…als diese Idee vor etlichen Monaten geboren wurde, schien das alles ganz schön größenwahnsinnig.
Anlass war ein anderes Projekt, ebenfalls ein bisschen größenwahnsinnig. Der erste bundesweite Bürgerrat, ein „Bürgerrat Demokratie“. Und zwar nicht mit den „üblichen Verdächtigen“, die sich ohnehin für Politik interessieren, sondern mit aus den Einwohnermelderegistern gelosten Menschen.
Losverfahren – da kann ja jeder kommen!
160 Leute, die die ganze Vielfalt der in Deutschland lebenden Menschen repräsentieren – aus dem Mini-Dorf und aus der Großstadt, mit Hauptschulabschluss und Doktortitel, zwischen 16 bis zu 82 Jahre alt, Frauen, Männer und Diverse, mit und ohne Migrationshintergrund…Diese 160 kamen im Herbst an vier Tagen zusammen, um Vorträge von Expertinnen und Experten anzuhören und dann über ein so abstraktes Thema wie Demokratie zu diskutieren.

Wie gut unser Zusammenleben funktioniert, hängt unmittelbar damit zusammen, wie gut unsere Demokratie funktioniert. Anders gesagt: Wenn der Werkzeugkasten schlecht ausgestattet ist, die Sägen rosten und an den Schraubenziehern die Bits fehlen, dann wird man auch nichts Funktionierendes oder gar Schönes bauen können.
Wenn ganz normale Menschen Politik machen…
Über die Grundlagen der Politik mit ganz normalen Menschen zu diskutieren und ihnen tragbare Lösungen zuzutrauen, das war zumindest mal…ein Wagnis. Und es hat funktioniert, es hat unglaublich gut funktioniert:
John Quigley, ein US-amerikanischer Künstler, (hier im Deutschlandradio-Porträt) hat von diesem Demokratie-Projekt erfahren. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich mit drängenden politischen Fragen und schafft dazu sogenannte Aerial Arts – Kunstwerke, die ihre volle Wirkung aus der Vogelperspektive entfalten. Die Überzeugung dahinter ist ähnlich wie beim Bürgerrat:
Das Ganze erhält seine Kraft und Schönheit durch die einzelnen, die daran beteiligt sind. Es kommt buchstäblich auf jeden Menschen an, damit das Kunstwerk – oder eben die Demokratie – sich voll entfalten kann.
Yeah – die Idee war geboren. Zur Übergabe der Bürgerrats-Ergebnisse würde Mehr Demokratie gemeinsam mit John Quigley und seinem Team ein riesiges, wunderschönes Bild auf die Reichstagswiese bringen.
Es hat funktionert!
…gegen alle Unwahrscheinlichkeiten und Widerstände. Um den Reichstag herum gibt es einen „befriedeten Bezirk“ mit besonders strengen Sicherheitsvorkehrungen. Eine Aktion auf der Reichstagswiese mit allen dafür notwendigen Genehmigungen zu veranstalten ist etwa so wahrscheinlich wie im von Asterix und Obelix bekannten „Haus das Verrückte macht“ den grünen Passierschein A 38 zu bekommen. Und so fehlten wenige Stunden vor unserer Aktion noch etliche der notwendigen Genehmigungen, unter anderem die Erlaubnis, die Drohne, die die Fotos liefern sollte, zu starten. Fliegen hätte sie dürfen, aber starten – no way… Aber sie ist gestartet und die Fotos und Filme sind in der Welt.
Ich freue mich wahnsinnig darüber, nicht nur als Demokratie-Aktivistin, sondern auch als Yogini und als ganzer Mensch. Warum?
Der Zauber der Spirale
Was da auch der Reichstagswiese – und in den Monaten davor – passiert ist, hat so viel zu tun mit unserem Potential als Menschen, mit unserem Zusammenleben in aller Verschiedenheit und trotzdem auf Augenhöhe, mit unserer Schöpfungskraft. DEMOCREATION – das ist das Wort, das mir dazu einfällt, eine Mischung aus Demokratie, Schöpfung und Kreativität im Sinne von Gestaltungskraft. Im besten Sinne von Joseph Beuys ist auf der Reichstagswiese eine „soziale Plastik“ entstanden. Der Beuys-Ausspruch „Jeder Mensch ist ein Künstler“ bedeutet ja im Grunde jede*r einzelne trägt die Fähigkeit in sich, die Gesellschaft zu gestalten.
Gestaltungskraft und Verbundenheit als Grundprinzipien
Auch im Kundalini-Yoga gibt es etliche Mantras mit Bezug zur Schöpfungskraft der Menschen in Verbindung mit ihrer Zugehörigkeit zu einem großen Ganzen.
Der Klang EK ONG KAR zum Beispiel kommt in vielen Mantras vor und ist der Anfang des Mul Mantras, des vielleicht wichtigsten Mantras im Kundalini Yoga. Zur Bedeutung und Wirkung von Mantras mehr hier. Sinngemäß bedeutet es: Das Universum ist eins. Schöpfer*in und Schöpfung sind eines. Wir sind ein kreatives Bewusstsein.

ANG SANG WAHE GURU bezieht sich auf die Verbundenheit des einzelnen Teils mit dem Ganzen – die Großartigkeit des Universums findet sich in jeder einzelnen Zelle wieder.
HUMMEE HUM BRAHM HUM (gesprochen: Hammie Ham Brahm Ham) bedeutet so viel wie: Wir sind wir und wir sind eins – und zugleich göttlich.
Ich behaupte nicht, dass die Aktion vor dem Reichstag irgendwie auf Kundalini-Yoga-Wurzeln zurückging. Sondern ich behaupte umgekehrt, dass das Kundalini-Yoga einige für die menschliche Existenz ziemlich grundsätzlichen Konzepte erfasst und erlebbar macht.
Das Konzept von Holonen (etwas Ganzem/Vollständigen, das Teil eines anderen Ganzen ist) und Fraktalen (einem einzelnen Bestandteil, der in seiner Form dem Ganzen, dem er angehört, gleicht) zum Beispiel gibt es auch in der Philosophie, der Psychologie, der Physik, der Soziologie, der Ökonomie, der Informatik…(eine Brücke zwischen alldem versucht Ken Wilber mit der Integralen Theorie zu schlagen).
Zurück vor den Reichstag…
Ausgerechnet die Spirale, neben dem Herz vielleicht das meist-geschätzte Symbol von Menschen, die sich mit Gesellschaftsentwicklung und Gemeinschaftsbildung beschäftigen, haben der Künstler und seine Mitdenker*innen als Demokratie-Bild gewählt, nachdem viele andere wie Pfeile und Kreise verworfen wurden. Ist das banal? Kurz haben wir das auch überlegt…Aber sie war einfach nicht wegzukriegen. Was berührt Demokratie-Vorkämpfer*innen so sehr an dieser Spirale und an Spiralen überhaupt?
Drei Gründe, warum es die Spirale sein musste
- Unendlichkeit/Dynamik: Auf einer Demokratie-Konferenz letztes Jahr wurde der Satz geprägt: „Democracy is a conversation that never ends.“ Ein Austausch, der niemals endet…Den braucht es auf jeden Fall zwischen den Volksvertreter*innen und den Menschen, die sie vertreten sollen. Und darum ist die Spirale vor dem Bundestag so passend. Die Spirale ist nicht in sich geschlossen. Sie öffnet sich nach außen oder – je nachdem, wie man sie sich vorstellt – nach oben. Sie ist offen für Austausch, man kann ihren Linien sozusagen in beide Richtungen folgen, etwas hineingeben oder herausholen. Hier sind Prinzipien im Spiel, die wichtig sind für menschliches Zusammenleben allgemein und funktionierende Politik im Besonderen.
- Universalität: Die Spirale vor dem Reichstag war in ihrer Form dem Inneren einer Nautilus-Schnecke nachempfunden. Diese Form entspricht zugleich dem goldenen Schnitt. Sie findet sich wieder in vielen Zusammenhängen, das wurde mir klar, als eine Yogini aus meiner Ausbildungsgruppe in den Tagen vor der Kunstaktion das unten stehende Bild an die Gruppe sendete. Bestimmte Annahmen, Bilder und Konzepte werden von vielen Menschen ganz intuitiv als schön, gut und wahr erlebt. Und die Spirale als Symbol für Entwicklung, Verbindung, Dynamik, Im-Fluss-Sein, Kreativität, Kraft…gehört ganz offenbar dazu. Vielleicht, weil sie eben mehr ist als ein Symbol, sondern ein Grundmuster unserer Existenz erfasst.

3. Verbundenheit: Wir sind verbunden. Wir, die Bürger*innen miteinander und mit den Politiker*innen. Aber vor allem – und das ist noch viel wichtiger – wir als Menschen untereinander. Wir als Einzelne mit dem Ganzen. Wir als Menschheit mit dem Leben auf diesem Planeten und mit dem Universum. Auch dafür steht die Spirale.
Es gibt keine Isolation. Jede unsere Handlungen muss ökologisch und global betrachtet werden, denn jeder Mensch beeinflusst direkt und indirekt umfassende Netzwerke von Menschen und andere lebende Wesen und Orte.
The Aquarian Teacher
Natürlich nutzen wir die Spirale auch im Yoga: Zum Beispiel als Symbol für die Kundalini-Energie. Sie ruht in der Vorstellung am unteren Ende der Wirbelsäule und steigt wenn sie erweckt wird, spiralförmig auf und belebt und verbindet alle Energiezentren (Chakren).
Was zählt ist die Erfahrung
Aber viel spannender als die Theorie finde ich in diesem Fall die Erfahrung: Was macht es mit uns, wenn wir diese Spirale aus Menschen sehen? Was macht es mit uns, wenn wir Teil einer solchen Spirale werden? Wenn wir uns als Teil des Ganzen und als verbunden erfahren, ist das eines der besten Mittel gegen Einsamkeit, Angst und Aggression. Selten habe ich mich so im Moment und so zufrieden gefühlt wie in den Tagen vor, nach und während der Kunstaktion. Ich glaube, dass es nicht nur mir so ging. Dieses Erleben ist stark und es hält eine Weile an. Wie viel stärker wäre, es, wenn wir alle öfter solche Verbundenheits-Erfahrungen machen würden?

Über die Reichtagswiese und über die Politik hinaus
Hinter all dem steht – wenn wir mal größer denken – das Prinzip der Nicht-Dualität das im Buddhismus, im Yoga und in zahlreichen Denkansätzen und Glaubensrichtungen eine Rolle spielt. Im Yoga würden wir sagen, dass das Getrenntsein im Grunde eine Illusion ist – „Maya“, eine Vorstellung, die wir uns über das Leben machen, die aber nicht unserem wahren Wesenskern entspricht. Im Leben entwickeln wir Denkmuster und Überzeugungen – „Samskaras“, die Sandbänke, die durch Gewohnheitsmuster entstehen. Oft fühlen wir uns im Gegensatz zu…in Abgrenzung von…im Widerstand gegen…Tief in uns tragen wir als Menschen die Sehnsucht nach Nicht-Getrenntsein. In manchen goldenen Momenten schaffen wir es, das Getrenntsein zu überwinden, und unsere Sandbänke ein bisschen abzutragen. Yoga, aber auch Erlebnisse wie die Demokratiespirale können uns helfen, unser vermeintliches Getrenntsein zu überwinden.

Nachklang
Am Vortag der Kunstaktion und der Bürgerrats-Übergabe standen zwölf Menschen in einem kleinen Kreis auf der Wiese vor dem Reichstag. Ziemlich genau an dem Punkt, wo der Ursprung der Spirale sein würde. Wir haben uns an den Händen gehalten, sind in uns und dann wieder aus uns heraus gegangen und haben unsere Wünsche und Intention sozusagen in die Wiese eingepflanzt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir wie gesagt noch etliche Genehmigungen nicht. Aber: Wir hatten die Gewissheit, dass wir zusammen genau hier dieses Bild der Kooperation, Souveränität und Gestaltungskraft in die Welt schicken würden. Ausrichtung – funktioniert fast immer.
Wenn eine Gruppe von Menschen – sei es eine kleine oder größere – sich gemeinsam ausrichtet, können unglaubliche Dinge möglich werden.
Und jetzt denkt das mal weiter mit Bezug zu großen Fragen wie dem Klimaschutz…
Ein Kommentar zu „Democreation: Wenn Menschen ihre Gestaltungskraft entdecken…“