Macht Sinn! Warum Bürgerräte wichtig sind…auch durch die Yoga-Brille betrachtet

Mehr als nur Corona

„Man könnte ja denken, das ganze Land ist im Corona-Schwitzkasten und es gibt nur ein Thema“, das war die Anmoderation in einem rbb-Nachrichtenformat für junge Leute am 13. Januar. „So ist es aber nicht, zumindest nicht für 160 Bürgerinnen und Bürger. Die werden sich heute mit einem anderen Thema beschäftigen. Sie nehmen am Bürgerrat teil und das soll nichts Geringeres sein als ein Neuanfang in Sachen Politikbeteiligung.“

So beginnt einer von rund 300 Medienberichten zum Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ mit ausgelosten Menschen aus ganz Deutschland. In vielen dieser Beiträge schwingt so etwas wie Erleichterung mit, dass es tatsächlich gerade noch etwas anderes gibt als Corona. Auch Hoffnung darauf, dass Demokratie irgendwie noch anders geht als wir sie in den letzten Jahren erlebt haben – lebendiger, ehrlicher, berührbarer, erlebbarer, mit größerer Nähe zwischen Bürger:innen und Abgeordneten.

Ausgeloste Bürger:innen erarbeiten Vorschläge für den Bundestag – die Grundidee hinter Bürgerräten, grafisch dargestellt von Liane Haug.

Allein in der ersten Januarhälfte haben mich als Öffentlichkeitsarbeiterin für das Projekt 350 Telefonate und Nachrichten im Zusammenhang mit dem Bürgerrat erreicht. Oft von (Medien-)Leuten, die mehr wissen wollen über Bürgerräte oder die Ausgelosten begleiten wollen. Ganz untypisch für Medienleute äußern sich viele regelrecht begeistert, zumindest aber voller Hoffnung darüber, dass nun Bewegung in eine offenbar festgefahrene politische Situation kommt.

Im Sog der Bürgerräte

Es ist faszinierend, was für ein Sogwirkung ein politisches Verfahren entfalten kann, was für eine Sehnsucht bei vielen Menschen besteht, sich damit zu beschäftigen. Und zwar auf Seiten der Bevölkerung und der Medien ebenso wie auf Seiten der Politik. Aber Sehnsucht nach was eigentlich?

Im Kern ist es vielleicht die Sehnsucht nach Gehört-, Gesehen- und Verstanden-Werden, die bei allen gleichermaßen besteht. Mein Bürger- oder Bürgerin-Sein macht dann Sinn, wenn ich etwas bewirken kann mit meinem „Einbringen“, mit meinen Ansichten, meinem Wissen und meiner Zeit. Mein Politikerin- oder Politiker-Sein macht dann Sinn, wenn die Entscheidungen, die ich treffe oder anstoße, Zustimmung finden und Probleme lösen. Mein Journalist:in-Sein macht dann Sinn, wenn ich Wahrheiten aufdecke, Sachverhalte erkläre, Lösungsmöglichkeiten aufzeige. Hier unterstelle ich natürlich, dass die Mehrzahl der Menschen nicht vor allem um der Macht oder um des Geldes willen antritt, sondern um ihrer Überzeugungen willen.

Nun bin also auch ich als Öffentlichkeitsarbeiterin jeden Mittwochabend und fast jeden Samstag Teil von etwas Großem und Ganzem – dem Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt – und schaue gemeinsam mit den Ausgelosten, dem Moderations-Team und vielen interessierten Gästen stundenlang auf den Zoom-Bildschirm. Dabei ist es gar nicht so wichtig, dass ich nur beobachtend dabei sein darf.

Alle, nicht jeder – So kann Beteiligung funktionieren

„Alle, nicht jeder“ so heißt ein bekanntes Buch der Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann zur Meinungsforschung. Die Idee dahinter ist, dass nicht jede:r im Land befragt werden muss, um alle abzubilden. Für das Format Bürgerrat kann ich das bestätigen: Ich fühle mich tatsächlich vertreten durch die rund 160 Ausgelosten. Jedes Mal, wenn ich als Beobachterin denke: „Jetzt würde ich gerne xy sagen.“ oder „Das ist doch auch noch wichtig“, hat es schon jemand in den Chat geschrieben oder in der Videokonferenz geäußert. Denn ich bin ja nicht allein mit meinen Fragen, Gedanken und Beobachtungen, zum Beispiel zur Frage, wie und wo Deutschland militärisch eingreifen soll, wie wir mit der schlimmen Situation der Geflüchteten in griechischen Lagern umgehen und welche Klimaschutzziele wir uns setzen wollen.

Wenn ich mich vertreten fühle von einem Teil der Ausgelosten, dann gilt das wahrscheinlich auch für einen Großteil der anderen Menschen in Deutschland mit ihren ganz eigenen Ansichten und Lebensgeschichten. Mir jedenfalls hilft dieses Dabei-Sein, dieses Teil-Sein und irgendwie auch Beteiligt-Sein, gerade in diesen schwierigen Pandemie-Zeiten. Es ist so gut, Teil von etwas zu sein, das Sinn macht!

Die Ausgelosten sind virtuell dabei, ein Teil des Teams arbeitet im Studio. Foto: Robert Boden.

Sinn – ein kostbares Gut

Sinn ist in diesen Corona-Tagen ein kostbares Gut. Sinn – was ist das eigentlich? Der Grund, warum ich morgens aufstehe, der Grund, warum ich weitermache, auch wenn es Widerstände gibt…das, woran ich mich freue und ausrichte, was mich motiviert.

Randnotiz zur Sinn-Frage: Sinn muss nichts Hochtrabendes sein, nichts Politisches, nicht einmal etwas „gesellschaftlich Relevantes“. Mein Sinn kann auch sein, dafür zu sorgen, dass meine Familie etwas Essbares auf dem Tisch hat, sich um ein Haustier zu kümmern, ein schönes Gespräch zu führen oder eine Arbeit ordentlich zu erledigen. Wenn ich etwas bewirke, wenn ich etwas verändere, wenn „etwas dabei herauskommt“ (das kann auch ein selbstgebauter Tisch sein oder eine saubere Wohnung), das schafft für viele Menschen Sinn. Sinn und Würde kann ich in den einfachsten Verhältnissen erleben und sie können in den „reichsten“ Umgebungen fehlen.

Un-Sinn und Sinnlosigkeit dagegen empfindet man, wenn die eigene Energie irgendwie zu verpuffen scheint, wenn sie nicht wahrgenommen oder nicht gebraucht wird, aber auch dann, wenn sie einfach in einem schwarzen Loch zu verschwinden scheint. Wie viele Menschen stehen dieser Tage gefühlt vor einem Loch, weil sie ihre gewohnte Tätigkeit nicht ausüben können, weil ihnen der Austausch mit anderen erschwert oder komplett verhindert wird, weil sie von den neuen Gegebenheiten schlicht „überrollt“ werden und nur noch reagieren statt zu handeln. Was für ein Privileg, seine Zeit gerade jetzt mit etwas zu verbringen, das Sinn macht!

Auch daher kommt vielleicht ein Teil der Anziehungskraft dieses Bürgerrats: Menschen wollen etwas bewirken und ihre Zeit sinnvoll einsetzen und ein Bürgerrat scheint dafür eine gute Möglichkeit.

Hoffnung – weil es Sinn macht

Und auch die Hoffnung spielt eine Rolle. Jetzt das zu ermöglichen und voranzutreiben, was dran ist – das macht Hoffnung. Ganz sicher ist der Austausch „gesellschaftlich dran“, das ergebnisoffene Gespräch und das In-Kontakt-Bleiben, gerade bei Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Interessen. Es gibt Momente beim Bürgerrat, in denen das „Wir hier unten – ihr da oben“ plötzlich nicht mehr da ist. Momente, in denen hochrangige Außenpolitiker plötzlich Verständnis ernten für ihre schwierige Position, meist mit komplexen Fragen und „Zwickmühlen“ konfrontiert und im Dauerfeuer derjenigen, die alles und jeden jenseits der eigenen Überzeugung schlecht machen oder sogar mit Hetze verfolgen. Momente, in denen Bürger:innen plötzlich Wertschätzung für ihre Ansichten, für ihre Klugheit und ihr Alltagswissen erhalten und dafür, dass sie ihre Zeit gerade der Gemeinschaft in diesem Land widmen. Momente, in denen die Ausgelosten feststellen, dass sie da einfach noch keinen Konsens haben, dass es zu viele gegensätzliche Aspekte zu berücktichtigen gibt, dass sie da noch länger drüber reden müssen. Egal was rauskommt, diese Momente werden alle, die sie miterlebt haben, im Gedächtnis behalten. Sie haben das Zeug dazu, Gräben zu überbrücken und Aggressionen abzubauen.

Ich hoffe so sehr, dass möglichst viel von dem, was jetzt in diesem Bürgerrat besprochen wird, in reale Politik übersetzt werden kann. Dass es nicht beim Austausch bleibt, dass viele Empfehlungen aufgegriffen werden, dass die 160 ausgelosten Leute den Eindruck haben, die vielen investierten Stunden haben sich gelohnt. Noch steht nicht fest, welche Empfehlungen sie am Ende der Politik geben werden. Und noch viel weniger absehbar ist, was davon Politiker:innen aufgreifen und umsetzen werden. Aber der Funke ist entzündet, der Grundstein ist gelegt und die Hoffnung bleibt als Antriebsfaktor. Hoffnung im Sinne von Vaclav Havel: nicht als Gewissheit, dass etwas gut ausgeht, sondern als Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.

Yoga-Blick: Verschiedenheit, Verbundenheit, kreative Kraft

Zum Schluss möchte ich gern nochmal „meine Brille als Yogini aufsetzen“. Denn hier gibt es ein paar wichtige Grundgedanken, die in Bürgerräten wieder auftauchen und wahrscheinlich kann ich mich auch deshalb so gut damit verbinden.

Eins-Sein in der Verschiedenheit: Ein Grundgedanke ist der des Eins-Seins. Wir als Menschen haben einen Ursprung, eine gemeinsame „Quelle“. Was natürlich nicht bedeutet, dass wir alle gleich sind. Aber in aller Verschiedenheit sind wir Teil von etwas größerem Ganzen. Und all die Widersprüche – Leid und Freude, Kampf und Frieden, Nähe und Ferne und sonstige Polaritäten – das gehört eben dazu, zum Ganz-Sein.

Im Grunde ihres Wesens haben wohl auch die meisten verankert, dass wir als Menschen miteinander und wir als Menschheit mit diesem Planeten verbunden sind. Das Bewusstsein dafür ist nur manchmal verschüttet durch den Alltag, durch Sorgen, Nöte, festgefahrene Strukturen oder einfach durch fehlende Zeit und fehlende Techniken fürs „Klarwerden.“

Du erfährst deine Fähigkeiten und deine Realität nur begrenzt. Dieses Bewusstsein kann erweckt und erweitert werden. Es kann bis in die Unendlichkeit ausgedehnt werden und gleichzeitig bleibst du du selbst.

Was ist Yoga? Vortrag von Yogi Bhajan. In: The Aquarian Teacher.

Noch unterbelichtet: Der gemeinsame „Innenraum“

Yoga ist einer von vielen möglichen Wegen, um das Bewusstsein des einzelnen Menschen zu schärfen. Im spirituellen Bereich gibt es eine ganze Reihe solcher Wege. Im Politischen, also einem Bereich der nicht das „Ich“, sondern das „Wir“ betrifft, sind solche Techniken des Bewusst-Machens allerdings noch nicht so gebräuchlich.

Wie schaffen wir es, unsere „kollektive Weisheit“ zu aktivieren? Wie können wir unseren gemeinsamen „Innenraum“ überhaupt wahrnehmen und bearbeiten, damit wir daraus Schlüsse für den gemeinsamen Außenraum (also Organisationsstrukturen, Regelungen, Institutionen) ziehen können? Es gibt einige erste Ansätze dazu, zum Beispiel Systemaufstellungen zu politischen Themen https://www.mehr-demokratie.de/themen/deepening-democracy/. Auch Bürgerräte können hier einen Beitrag leisten, denn dort gibt es Zeit und Raum, um sich Dinge bewusst zu machen. Durch geschützte Räume und gute Moderation können ein freier und gleichberechtigter Austausch und im Idealfall gemeinsame Vorschläge entstehen. Plakativ formuliert:

Ein Bürgerrat ermöglicht die Erfahrung des Eins-Seins in der Verschiedenheit und Einzigartigkeit aller Teilnehmenden.

Kreativ-Kraft: Ein weiterer wichtiger Gedanke im Kundalini-Yoga ist auch, dass wir Menschen schöpferische, kreative und in diesem Sinne auch mächtige und fähige Wesen sind. Es gibt nicht so viele Orte in unserer Gesellschaft, wo man beides – das Verbunden-Sein und das Schöpferisch-Sein, ganz praktisch erfahren und hautnah erleben kann.

Es braucht also eigentlich niemanden, der uns lehrerinnenhaft oder hirtenmäßig beibringt: „Hey, wir sind doch alle eins!“ Wir müssen in dieser Hinsicht nichts neu lernen, sondern uns eher an das erinnern, was ohnehin da ist. Wir Menschen brauchen daher Räume und Techniken, in denen wir unsere Verbundenheit erkennen und zugleich die eigene Weisheit und Schaffenskraft aktivieren können.

Den inneren Kompass in einen äußeren überführen – eine Herausforderung von Bürgerräten. Foto: Thorsten Sterk. Grafik: Alexandra Klobouk.

Im Zusammenhang von Corona hören und lesen wir gelegentlich „We’re in it together“ – „Wir stecken da alle zusammen drin.“ Ja, auch da ist was dran. Das Gleiche gilt für andere Krisen wie die Klimakrise. Aber bei diesem „zusammen drin“ fehlt bisher das Gestaltende, das Positive. Hier reagieren wir eher und sind gemeinsam die Getriebenen in einer Situation, die wir mit verursacht haben.

Wir können es schaffen, das umzukehren. Ohne unsere verschiedenen Interessen zu leugnen, indem wir ehrlich auch die unangenehmen Folgen von Entscheidungen anschauen und uns gemeinsam entscheiden, was wir gewinnen wollen und was wir dafür an Verlusten in Kauf nehmen wollen. So können wir in die Zukunft zu gehen. Dafür lohnt es sich, aufzustehen, auch wenn man derzeit manchmal die Bettdecke über den Kopf ziehen möchte…Hoffnung!

We’re one but we’re not the same
Well we hurt each other then we do it again […]

One love, one blood
One life, you got to do what you should
One life, with each other
Sisters, brothers

One life but we’re not the same
We get to carry each other, carry each other

U2 – One

Ein Kommentar zu „Macht Sinn! Warum Bürgerräte wichtig sind…auch durch die Yoga-Brille betrachtet

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