Demokratie vollständiger denken – Erkenntnisse über Resonanz und Emotionen nutzen

Ich möchte Sie gerne auf eine kleine Entdeckungsreise mitnehmen. Wir machen einen Ausflug in eine Welt, die wir in der politischen Arbeit (noch) nicht häufig betreten und bearbeiten: Die Welt der Gefühle, der Resonanz, des Unterbewussten, der Zu- und Abneigungen. Allgemeiner gesagt: Eine Reise in die Innenräume der Demokratie. (Hinweis: Dieser Text ist zuerst und in leicht abgewandelter Version erschienen im demokratie!-Magazin Nr. 1/22)

Quelle: Gerd Altmann/Pixabay

Resonanz und Demokratie

Die Journalistin und Autorin Ute Scheub erklärt in ihrem für Mehr Demokratie e.V. geschriebenen Büchlein „Demokratie – Die Unvollendete“ unsere Interaktionen im politischen Feld über Musik-Vergleiche. „Demokratie ist Musik mit anderen Mitteln“, sagt sie und beschreibt die Demokratie als einen gemeinsamen Klangkörper, bei dem es im Grunde darum geht, verschiedene Stimmen miteinander in Einklang zu bringen. Harmonie ist bei Ute Scheub allerdings nicht zu verwechseln mit Eintönigkeit – es geht also niemals um das Ausschalten ungewohnter oder unangenehmer Stimmen, sondern eher um den Versuch, einander zu hören und sich anzunähern.

Scheub stützt sich bei ihren Ausführungen u.a. auf den prominenten Soziologen und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa. Mit seinem Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ hat er die Idee von einem gelingenden Leben als interaktives und dialogisches Verbundensein von Menschen untereinander und zu Welt bekannt gemacht. Wie bringt uns diese Vorstellung in der Demokratie-Arbeit weiter?

Rosa beschreibt den Kern des Politischen aktuell als geprägt von Feindschaft, Gegensatz und Machtkampf. Ein Konsens wird in der Regel nur als Verschleierung unterschiedlicher Interessen gesehen, nicht als ein echtes Aufeinander-Zugehen. Doch die Art unseres Weltbezugs kann auch anders sein als zurückweisend oder indifferent gegenüber anderen Positionen.

Eine resonante Politik würde bedeuten: Es geht nicht um die Frage „Wer bestimmt…?“ (Personalien), sondern um die Frage „Wie wollen wir unsere Welt gestalten?“ (Sachfragen). Der Kern des Politischen wäre dann nicht mehr der Machkampf, sondern die gemeinsame Gestaltung, bei der in einer Demokratie alle eine gleichwertige Stimme haben.

Voraussetzungen: Berührbarkeit, Zuwendung, Veränderbarkeit

Rosa beschreibt drei wichtige Merkmale eines resonanten Weltbezugs:

  • 1. Wir müssen berührbar, „anrufbar“ sein: Im normalen Abarbeitungs-Modus können und wollen wir keine neuen Impulse von außen aufnehmen.
  • 2. Resonanz bedeutet, dem anderen entgegenzugehen, zu antworten, sich emotional auf etwas einzulassen. Ich bewege mich und bin nicht fixiert und erfahre dabei Selbstwirksamkeit und Kontakt.
  • 3. Durch Resonanz werden alle Beteiligten verändert, es kann etwas Neues entstehen.

Kommt Ihnen das aus ihrem Leben und Arbeiten bekannt vor? Das Resonanzkonzept kann starke Berührungspunkte zu politischer Arbeit haben. Es spielt eine Rolle bei Verfahren und Räume, die den Austausch ermöglichen.

Wer sich mehr Resonanz in der Politik wünscht, sollte auf Konzepte setzen, die nicht-oberflächliche Gespräche, tiefes Zuhören und das Ringen um bessere Lösungen im Sinne des Gemeinwohls fördern.

Eine entscheidende Erkenntnis bei Rosa ist, dass sich Resonanz nicht erzwingen lässt. Man kann günstige Bedingungen schaffen, aber jede Art von Kontrollbedürfnis („Bei diesem Treffen muss xy herauskommen“) kann Resonanz sogar verhindern. Das gleiche gilt für Angst oder Wettbewerbs-Situationen. So betrachtet überrascht es nicht, dass aktuelle politischen Formate – etwa Plenardebatten oder Talkshows – viele Menschen eher unbefriedigt zurücklassen. Mehr Demokratie und andere politisch arbeitende Organisationen können hier Denkanstöße liefern und Alternativen anbieten. Geloste Bürgerräte oder Online-Formate, in denen Abgeordnete mit Bürgerinnen und Bürgern zusammentreffen, sind erste Ansätze. Und auch direktdemokratische Initiativen, besonders die Gespräche mit ganz unterschiedlichen Menschen auf der Straße, funktionieren durch Resonanz.

Fakten sind wichtig, aber nicht ausreichend

Die Frage „Wie kann Austausch und Kommunikation gelingen?“ steht für einen Verein wie Mehr Demokratie zwangsläufig im Zentrum der Arbeit. Denn Demokratie basiert auf Kommunikation, auf einer Verständigung gerade auch zwischen Nicht-Gleichgesinnten. Demokratie ist ein niemals endendes Gespräch. Nun könnte man es dabei bewenden lassen, Fakten mitzuteilen und zu analysieren und auf rein rationale Botschaften zu setzen – auch das wäre ja ein Gespräch. Meine Erfahrung ist allerdings, dass wir dabei an unsere Grenzen stoßen.

Es genügt offenbar nicht, vernünftige Argumente zu haben, um jemanden von einer Idee zu überzeugen.

Wie sonst wäre es zu erklären, dass die Ablehnung der direkten Demokratie noch immer mit der Angst vor Einführung der Todesstrafe, den „schlechten Weimarer Erfahrungen“ oder den angeblichen Volksabstimmungs-Erfolgen von radikalen politischen Strömungen begründet wird, obwohl all das durch Daten und Fakten widerlegbar ist? Offenbar spielen hier auch nicht offensichtliche Aspekte, kollektive Erzählungen, wahrscheinlich auch Traumata (also nicht-verarbeitete Negativ-Erlebnisse) und Ängste eine Rolle.

Phänomene, die nicht rein rational erklärbar sind, können jedoch unsere Arbeit nicht nur blockieren, sondern auch voranbringen, wenn wir es schaffen, emotionale Beziehungen und Dynamiken systematisch mit einzubeziehen. So hat Mehr Demokratie im letzten Jahr im Bereich „Deepening Democracy“ mit Politikfeldaufstellungen hilfreiche Thesen und Erklärungsansätze über die Demokratie gewonnen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer repräsentierten dabei Elemente wie „die Wählenden“, „die Gewählten“, „Bürgerbeteiligungsverfahren“ etc., sprachen und bewegten sich stellvertretend für diese. Mit Hilfe dessen und durch ein neu entwickeltes Verfahren, bei dem ganz unterschiedliche Menschen an der Auswertung beteiligt waren, konnten wir vorher eher diffuse Wahrnehmungen in konkrete Thesen und Fragen fassen. Eine Erkenntnis war beispielsweise: „Könnte es sein, dass auch wir als Zivilgesellschaft zur aktuellen Starre im System beitragen, indem wir schlecht über die Politikerinnen und Politiker denken und reden?“

Dies ist nur ein Beispiel, wie demokratische Innenräume erforscht werden können. Ein weiteres Experiment 2021 war das Projekt „Climate Crisis? Stop and listen!“, für das Positionen in Zusammenhang mit der Klimakrise in Musik „übersetzt“ und so auch emotional zugänglicher wurden. Für April 2022 ist die Erforschung der gesellschaftlichen Spaltung in der Corona- und Klimakrise geplant.

EXKURS Klang und Schwingung

Schwingung ist in unserem Alltag allgegenwärtig und ein Grundpfeiler unserer Kommunikation, die u.a. durch Schallwellen (Sprechen, Singen, Musizieren, Hören) und Lichtwellen (Sehen) erfolgt. Die Resonanz von schwingungsfähigen Systemen spielt eine Rolle bei der Erzeugung von Schallwellen und bei der Rezeption ebenso: Schallwellen treffen auf das Trommelfell auf und versetzen Flüssigkeit im Innenohr in Schwingung. Diese regt die Härchen der Hörzellen ihrerseits zu Schwingungen an. Dabei geraten einige in Resonanz (im physikalischen Sinne) und teilen dadurch dem Gehirn mit, welche Frequenzen im Schall enthalten sind. Darauf beruht die Wahrnehmung von musikalischen Harmonien und Dissonanzen.

Ein Dank an dieser Stelle an Dipl.-Phys. Dr. rer. nat. Klaus Ch. Rohwer für die Erläuterungen zu akustischer Schwingung.

Im Yoga, wo mit „Mantras“ auch bestimmte Klänge und Klangstrukturen genutzt werden, um den Geist zur Ruhe zu bringen und sich innerlich auszurichten, geht man davon aus, dass deren Wirkung u.a. mit Relfexpunkten am Gaumen zusammenhängt. Durch Stimulation dieser Punkte wird demnach das Drüsensystem im Gehirn angeregt, was wiederum Einfluss auf Gedanken, Stimmungen, Wohlbefinden etc. hat. Zudem wird davon ausgegangen, dass akustische Klänge, etwa durch Gesang oder Gong-Spiel erzeugt, die Flüssigkeit im menschlichen Körper in Schwingung versetzen und dadurch eine Wirkung erzielen. Dass Mantras sich positiv auf die psychische und körperliche Gesundheit auswirken können, ist bereits nachweisbar – bezüglich der Erklärbarkeit steht die Wissenschaft aber noch am Anfang.

Einige erste Erkenntnisse bezüglich der Wirkung von Mantras sind hier zusammengefasst: https://awarenesstechnologies.net/wp-content/uploads/2018/06/YTT-Mantra-article-Staples.pdf

Klänge und Musik sind universell bedeutsam und verständlich. Seit Beginn der Menschheitsgeschichte erschaffen Menschen komplizierte Muster aus Schallwellen. Was einem „gefällt“ und vertraut ist, ist natürlich kulturell und individuell erlernt. Bestimmte Klänge wirken trotzdem auf alle ähnlich, denken wir an Hilferufe, Gefahrensignale, Meeresrauschen, Kinderlachen. Klang funktioniert unabhängig von Sprache und Intellekt, selbst dann, wenn der Geist noch nicht oder nicht mehr so funktioniert wie wir es gewohnt sind. Klang und Musik bedienen offenbar uralte emotionale Bedürfnisse. Und es ist nachweisbar, dass sich Musik auf die Gehirnaktivität auswirkt, so ist z.B. beim Hören von „Lieblingsmusik“ das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert. Ihre positiven Auswirkungen werden daher mittlerweile auch medizinisch, therapeutisch, pädagogisch genutzt, etwa bei Entwicklungsverzögerungen von Kindern oder um demente Menschen zu erreichen. Und – hier wird es spannend für die Demokratiearbeit – Klänge können auch genutzt werden, um ein Gemeinschaftsgefühl und Gruppenenergie zu erzeugen (Konzerte, Hymnen, Demo-Slogans), um ein Gefühl der Verbundenheit und Ganzheitlichkeit zu schaffen oder eben auch, um aggressive oder angstvolle Stimmung zu erzeugen.

Grafik: Liane Haug, Mehr Demokratie e.V.

Wo kann die Reise hingehen?

Wenn wir Räume des Zuhörens und Ringens um neue Lösungen schaffen, hilft es, die Erkenntnisse über Resonanz, emotionale und nicht verstandesmäßig gesteuerte Dimensionen mit einzubeziehen. Zuhören bedeutet dann auch, hinter die Worte zu hören und offen für das zu sein, was das Gegenüber außer faktischen Argumenten noch bewegt. Denn wenn die nicht-rationalen und nicht-offensichtlichen Aspekte ausgeblendet werden, bleibt der Austausch halbherzig – und eigentlich auch „halbhirnig“, denn auch Emotionen, Gedanken, Gefühle sind mit der Hirnaktivität verknüpft. Ein Beispiel wäre, wenn Menschen aus einer Wut- oder Angsthaltung heraus sprechen oder durch irgendwas, das nicht klar benannt wird, „getriggert“ sind – es entsteht dann keine wirkliche Lösung, sondern höchstens ein Überdecken von Gegensätzen.

Es zeichnet sich ab, dass Mehr Demokratie aus diesen Erkenntnissen heraus – und zusätzlich zu unseren Argumenten, Daten und Fakten – verstärkt auch neue Kulturtechniken ausprobieren wird, um zu einer vollständigeren Kommunikation und Demokratie zu kommen. Erste Ansätze gibt es bereits, zum Beispiel mit den oben beschriebenen Politikfeldaufstellungen oder dem Projekt „Climate Crisis? Stop and listen!“. Ganz aktuell bietet der Verein Gesprächsräume zu Themen wie Corona oder dem Krieg in der Ukraine an, in denen es zunächst einmal nicht um inhaltliche Debatten, sondern ums freie Sprechen und Zuhören geht. Auch in unseren Besprechungen nutzen wir gelegentlich schon Körperübungen, Klang- und Spürübungen und den Austausch über Befindlichkeiten oder auftretende Störungen. Dabei geht es nicht darum, das Faktische über Bord zu werfen, sondern eher darum, die Verbindung von Geist, Körper und Seele auch in die demokratische Arbeit hineinzunehmen.

Kommen wir nochmal auf den Boden der täglichen Demokratie-Arbeit, von Mehr Demokratie, aber möglicherweise auch anderen Organisationen.

Was heißt das für die Arbeit von Demokratie-Organisationen?

Wir planen Kampagnen und Aktionen mit Blick auf das, was wir erreichen wollen (neue Regelungen und Gesetze), legen Argumentationen und Forderungen zurecht. Das ist gut so! Aber vielleicht brauchen wir auch zusätzlich Fragen wie: „Wie fühlt sich das Gegenüber mit dieser Forderung? Welcher Rahmen passt, damit sich z.B. Politikerinnen und Politiker überhaupt gedanklich öffnen und nicht alles gleich als lästige Arbeitserschwernis abtun? An welche Werte und Grundstimmungen können wir appellieren, die wir vielleicht sogar teilen?“

Mehr Demokratie hat lange Zeit vor allem konfrontative Kampagnen gefahren und tut das auch noch, oft mit Erfolg. Doch gerade bei bundesweiten Volksabstimmungen, dem Herzensthema, blieb der bundesweite Durchbruch aus. Eine Mehrheit der Bevölkerung ist durchgehend für mehr direkte Demokratie, aber die Politik tut sich nach wie vor damit schwer. Mit den Bürgerräten, bei denen Politikerinnen und Politiker von Anfang an eng eingebunden waren, hat der Verein dagegen offene Türen eingerannt und weitere geöffnet. Nun stehen Bürgerräte im Koalitionsvertrag – keine drei Jahre, nachdem man auf Bundesebene damit angefangen hat, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Schaut man auf die Befindlichkeiten/Innenräume der Politik, ist das vielleicht gar nicht so überraschend: Bürgerräte kommen weniger als Konfrontation und Angriff auf die eigene Machtposition daher als Volksabstimmungen. Daher ist es leichter, sich erstmal dafür zu öffnen. Die Hoffnung ist, dass Vertrauen auf beiden Seiten wächst – letztlich sind wir alle Menschen, die ihre Interessen im Blick haben und über deren Ausgleich verhandeln müssen. Wenn diese Basis da ist, sind auch Entscheidungen/Abstimmungen, die nicht im eigenen Sinne ausgehen, leichter zu verkraften, für Bürgerinnen und Bürger ebenso wie für Politikerinnen und Politiker.

Es kommt nicht nur darauf an, was wir fordern, sondern auch wie, in welchem Tonfall und mit welcher inneren Haltung wir es tun. Je bewusster wir uns sind, dass es nicht nur ein „Außen“ von Strukturen, Gesetzen und Institutionen gibt, sondern auch ein „Innen“ von Vorstellungen, Gefühlen, Prägungen, Traumata, Hoffnungen und nicht zuletzt auch Körperempfindungen, desto erfüllender und erfolgversprechender wird unsere Arbeit. Schon allein deshalb lohnt sich die Beschäftigung mit demokratischen Innenräumen. Doch es geht weit darüber hinaus. Mit den demokratischen Innenräumen schaffen wir Möglichkeitsräume und finden neue Antworten für die großen Herausforderungen unserer Zeit.

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