Es fühlt sich an, als ob unter mir der Boden schwankt, als ob ich wegrutschen und runterfallen könnte, ohne Halt, ins „Grundlose“. Das macht Angst. Und es ist anstrengend, denn um „an Deck zu bleiben“ brauche ich viel Energie und Willenskraft. Und um die Orientierung zu behalten, werde ich ganz unbeweglich. Existenzielle Angst und Anspannung, ausgelöst manchmal von scheinbaren Kleinigkeiten. Ein Satz, ein Blick – oder auch das Fehlen von beidem – kann das Gefühl hervorrufen, verlassen zu sein, das Gefühl, nicht geschätzt und gehalten zu sein, das Gefühl, dass etwas nicht repariert werden kann, obwohl mein Leben doch „objektiv“ so gut ist…In der Psychologie würde man es Trauma nennen, im Kundalini-Yoga verstecktes Selbst.
Traumata werden über Abdrücke in den entwicklungsgeschichtlich alten Regionen des Gehirns im Körper gespeichert und kommen – oft unbewusst – in Situationen zum Vorschein, die auf den ersten Blick nichts mit der Ursprungssituation zu tun haben. Die Ursache ist, dass eine vergangene Situation emotional und auch körperlich wiederholt wird.
Frei übersetzt aus dem Gespräch zwischen dem Psychiater und Traumatherapeuten Bessel van der Kolk und Ezra Klein
Ich traue mich, das zu schreiben und darüber zu sprechen, weil ich mittlerweile weiß, dass ich nicht die Einzige bin. Aber selbst wenn ich die Einzige wäre…der beste Weg, damit umzugehen, wäre ohnehin, sich nicht zu verstecken. Noch vor ein paar Jahren hätte ich mich das höchstens im engsten Kreis getraut. Weil ich es nicht mit meinen Rollen als Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit und Mutter, geschweige denn als Yoga-Lehrerin zusammenbringen konnte. „Was, wenn ich meine Reputation ruiniere oder Menschen mich für schwach halten?“
Inzwischen habe ich – unter anderem durch meine Yoga-Praxis, durch Zuhören und Lesen und Lernen von anderen Menschen verstanden: Eine „dunkle Seite“ – man mag es Trauma, tiefe Verletzung oder verstecktes Selbst nennen – spielt in den meisten Leben, wenn nicht sogar in allen, eine Rolle. Traumatisierung ändert die Gehirnstruktur, die Denkweise und die Art, wie man körperlich reagiert. Unglaublich viele Menschen tragen Schmerz mit sich und sind sich dessen teilweise nicht bewusst.
These little earthquakes. Doesn’t take much to rip us into pieces…
Und plötzlich bist Du jemand anders…
Es geht also um Aspekte unseres Selbst, die normalerweise nicht sichtbar werden. Unsere Hauptpersönlichkeit, also das, was wir meistens zeigen, sieht anders aus als der Teil von uns, der aktiviert wird, wenn alte nicht verarbeitete Verletzungen oder schlimme Erfahrungen berührt sind. Wir sind dann „getriggert“, so als ob jemand auf den Abzug einer Waffe gedrückt hat und sich nun unaufhaltsam ein Schuss löst. Plötzlich verändert sich die Stimmung oder auch die Stimme von Menschen, sie erleben „lähmende Angst“, „blinde Wut“, „erdrückende Enge“ oder andere negative Gefühle, verbunden mit den entsprechenden Körperempfindungen. Mit der besten Version unseres Selbst, die unseren dauerhaften und unverwüstlichen Kern bildet, hat diese „reaktive Persönlichkeit“ nichts zu tun. Und trotzdem gehört sie zu uns.
Ich habe lange gebraucht um zu verstehen, dass die Auswirkungen von Trauma nicht auf Überlebende von Katastrophen oder Opfer unmittelbarer Gewalt beschränkt sind. (Dies soll natürlich nicht in Abrede stellen, dass Menschen, die solche Schocktraumata erleben, besonderer und unmittelbarer Fürsorge bedürfen). „Das betrifft mich nicht, denn ich hatte eine gute Kindheit und habe nie etwas wirklich Schlimmes erlebt“, so denken viele Menschen. Doch tiefe und anhaltende Verletzungen entstehen zum Beispiel auch, wenn ich ein grundlegendes Bedürfnis habe, das nicht beantwortet wird, oder wenn ich eine bestimmte Reaktion bräuchte, die ich nicht bekomme. Trauma entstehen allgemein gesagt dann, wenn man sich überwältigt fühlt, sich nicht aktiv schützen kann und das Erlebte abspaltet. Oft passiert das in der frühen Kindheit, wird aber im späteren Verlauf des Lebens wieder aktiviert.

Wenn anhaltende Krisen Spuren hinterlassen
In der Psychologie ist es mittlerweile anerkannt, dass auch dauerhafte Belastungs- und Krisen-Situationen, etwa Corona oder die Klimakrise, traumatische Erfahrungen verursachen. Zum einen entstehen „primäre Traumata“, also unmittelbare Verlust- oder Abspaltungserfahrungen, zum anderen auch „sekundäre Traumata“. Bei letzterem werden bereits bestehende Traumata aktiviert, zum Beispiel Erinnerungen an Fremdbestimmung oder Gewalterfahrungen in der Vergangenheit. Das im Zuge der Pandemie entstandene Gefühl der Angst vor anderen Menschen kann seine Wurzeln also sowohl im direkten Erleben haben („Eine andere Person kann mir gefährlich werden“) als auch in der Vergangenheit („Ich kann anderen Menschen nicht vertrauen“). Fleet Maul und Ron Siegel beschreiben dieses Gefühl beim Global Resilience Summit als „everybody ist the enemy“.
Traumatische Erfahrungen müssen wir „verdauen“, wie es Thomas Hübl ausdrückt, und zwar nicht nur als Individuen, sondern auch als Gemeinschaften und Gesellschaften. Tun wir das nicht, lagert sich Traumaschicht über Traumaschicht – oder im Bild von Hübl: Neue negative Erlebnisse häufen sich wie Schnee auf einem gefrorenen Gewässer. Ist das Wasser dagegen nicht gefroren, also beweglich, kann der Schnee darin aufgenommen, also das aktuelle Erlebnis integriert werden. Es ist deshalb wichtig – und da stimmen alle mir bekannten Trauma-Expert:innen und Psycholog:innen überein – dass wir „auftauen“, uns also unseren kollektiven oder individuellen Verletzungen zuwenden, sie annehmen und auch mit anderen in den Austausch dazu gehen. Aber es kommt noch dicker, um beim Bild der gefrorenen Schichten zu bleiben. Denn wir tragen nicht nur unsere eigene Geschichte und Erfahrungen mit herum, sondern auch die unserer Vorfahren.
There is no single human being on mother earth that does not have some kind of trauma.
Ilarion Kuuyoux Merculieff
Ilarion Kuuyoux Merculieff, Gründer und Präsident des Center for Indigenous Leadership & Lifeways, vertritt beim Global Resilience Summit 2022 die Position, dass traumatisches Erleben bei der Geburt auf jeden Menschen übergeht, verursacht durch andauernde patriarchale Strukturen und Unterdrückung des Weiblichen. Was er in seinen Worten beschreibt, deckt sich mit den Erkenntnissen der Epigenetik, wonach Traumata auf nachfolgende Generationen vererbt werden können.
Unverarbeitete Erlebnisse können sich bis in körperliche Symptome hinein auf die nächsten Generationen übertragen, das ist mittlerweile in der Psychologie und therapeutischen Arbeit anerkannt. In manchen Fällen kann man selbst daran arbeiten, Verletzungen und traumatische Erlebnisse zu bewältigen. So macht z.B. Mark Wolynn Vorschläge, wie das Analysieren der eigenen Sprache und Reflektionsübungen helfen können, um Schmerz loszuwerden, der nicht der eigene, sondern der von Vorfahren ist. Auch in Familienaufstellungen spielt die Erkenntnis eine Rolle, dass die Erfahrungen anderer Menschen in unserem Sozialgefüge eng mit unserem Erleben verknüpft sind.
Noch eine Baustelle
Wow! Im ersten Moment mag es nicht sehr angenehm sein, das zu lesen oder sich bewusst zu machen. Noch eine Baustelle! Wir sollen uns nicht nur mit dem weltpolitischen und ökologischen Geschehen, sondern auch noch mit unseren eigenen „Rissen“ beschäftigen?
Die Beschäftigung mit Trauma ist gerade in Mode, wie neulich eine Bekannte kritisch anmerkte. Ich verstehe die Bedenken, wenn es darum geht, dass wenig fundierte und ausgegorene Ansätze als Trauma-Therapie angeboten werden. Gerade wenn Menschen unmittelbare Schocktraumata erlebt haben, ist es auf jeden Fall geboten, diese professionell zu begleiten. Die schlimmsten Folgen und viele darauffolgende Therapien ließen sich womöglich sogar vermeiden, wenn die Hilfe zur Verarbeitung direkt nach dem schlimmen Erleben kommt, wie die Resilienztrainerin Corinna Cremer betont. Wenn es allerdings um „Traumabewusstsein“ oder Trauma-Informiertheit geht, also ein gewisses Grundwissen um die Zusammenhänge, bin ich persönlich sehr froh, dass das Thema gerade in Mode kommt. Denn dieses Grundwissen nützt uns in zwischenmenschlichen Beziehungen und in vielen Arbeitszusammenhängen, in meinem Fall zum Beispiel in der politischen Arbeit und beim Yoga-Unterricht.

Die gute Nachricht ist: Es gibt mittlerweile zahlreiche und gut erprobte Ansätze, die einzelnen Menschen, Gruppen und größeren Zusammenhängen dabei helfen, mit ihren inneren Verletzungen/Traumata umzugehen. Ich kann und möchte hier nur Blitzlichter setzen auf drei Ansätze aus meinem unmittelbaren Umfeld, die recht unterschiedlich sind, aber die ich alle als hilfreich empfinde.
Yoga: Die Arbeit am versteckten Selbst
Im Kundalini-Yoga gehen wir – gestützt auf Ansätze aus der Psychologie – davon aus, dass jeder Mensch verschiedene Persönlichkeits-Aspekte besitzt:
Das höhere Selbst bzw. die wahre Identität, die unabhängig von den äußeren Umständen den Kern unseres Wesens bildet. (Bsp.: „Ich bin vollkommen, schön und voller Energie“)
Die Hauptpersönlichkeit, die wir im Alltag zeigen, also das Bild, das wir anderen von uns selbst vermitteln wollen. (Bsp.: „Ich handle souverän und bringe Dinge voran“)
Die Schattenpersönlichkeit, die Aspekte von uns enthält, die wir verbergen oder nicht zulassen wollen. (Bsp.: „Ich bin unsicher und träge“)
Das versteckte Selbst, das wir nicht unter Kontrolle haben und das uns wie unter Hypnose in Reaktionsmuster verfallen lässt. (Bsp.: „Immer muss ich mich verteidigen, sonst werde ich schlecht behandelt.“)
„Die eingebildete Persönlichkeit erschafft eine Kluft zwischen uns und der Welt, so wie sie ist. Wenn unser Geist und unser Ego sich an ihr ausrichten, wird so eine aktive Persönlichkeit geschaffen, die von unserer realen Identität und den wahren Umständen abgespalten ist“, so beschreibt es das „Handbuch Bewusste Kommunikation“ für die Internationale Lehrer:innenausbildung des Kundalini Research Institute.
Während die ersten drei Persönlichkeitsmerkmale gesund sind (das gilt auch für den „Schatten“, der sich gut integrieren lässt), hat das „verstecke Selbst“ etwas Destruktives. Es kann an der Weiterentwicklung hindern, inneren Frieden und Heilung blockieren. Auch das versteckte Selbst hat übrigens nicht nur mit der eigenen Biographie zu tun. Es kann auch die ganze Gesellschaft betreffen, etwa wenn „im Namen von…“ böse Dinge getan oder zugelassen werden – wie der Holocaust, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen indigene Bevölkerungsgruppen, Kolonialismus, Unterdrückung von Minderheiten usw. („Böse“ meint in diesem Zusammenhang „frei von Mitgefühl“).
Was tun, wenn sich das versteckte Selbst zeigt?
Zunächst mal: Mit Blick auf den einzelnen Menschen ist es kein Drama und keine Schande, hin und wieder mit seinem versteckten Selbst konfrontiert zu sein. Aus Sicht des Kundalini-Yoga gibt es drei sinnvolle Wege, um damit umzugehen:
1. Rationale Therapien, also die ausführliche Beschäftigung und klare Benennung des „Versteckten“, wie sie zum Beispiel im Rahmen von Psychotherapie stattfindet. Da das Erkennen allein aber noch nicht unbedingt eine Heilung bedeutet, empfiehlt sich außerdem
2. Sadhana, also eine regelmäßige Übungs- und Meditationspraxis, die nach und nach das Unterbewusstsein klärt. Die Übungen helfen dabei, das Nervensystem von Spannungen zu befreien und die Meditation hilft, den Geist und die Intuition (neu) auszurichten.
3. Verwendung eines Gatka. Dies ist als „Schwert“ oder etwas sanfter als „Bremse“ zu verstehen, wodurch dem Wirken des versteckten Selbst Einhalt geboten wird. „Für jeden Gedanken, der klein, selbstzerstörerisch und begrenzend ist und ein negatives Szenario hervorruft, gibt es einen entsprechenden Gedanken, der weit, befreiend, das Selbst ausdehnend ist und ein positives Szenario entwirft.“ heißt es im oben erwähnten Ausbildungsbuch. Ein Gatka kann ein Gedanke, ein einzelnes Wort, ein Mantra oder eine bestimmte Meditation sein. (Bsp.: Dem Gefühl „Ich tauge zu nichts und werde nicht geschätzt“ wird der Gedanke „Ich bin aus mir selbst heraus erleuchtet“ entgegengesetzt). Wenn wir das regelmäßig üben und dadurch unseren neutralen Geist trainieren, verliert die negative Vorstellung, die uns von der „besten Version unseres Selbst“ trennt, mit der Zeit ihre Kraft.

Ein Demokratie-Forschungsprojekt: Kollektive Trauma-Integration
Wie können wir zusammen mit anderen Menschen an Traumata arbeiten, die uns alle betreffen? Und wenn das gelingt, bringt es tatsächlich etwas für unser soziales Zusammenleben und die Demokratie? Diese Fragen stand im Zentrum eines Online-Prozesses zu Traumaintegration und Demokratieforschung, den Mehr Demokratie vom 28.4. bis 1.5. zusammen mit dem internationalen Pocket Project und weiteren wissenschaftlichen Partnern organisiert.
Mit der Klimakrise, Corona und dem Krieg in der Ukraine überlagern sich gleich mehrere schwere Krisen. Bei allen drei Krisen gibt es sehr unterschiedliche Deutungen und Umgangsweisen. Ein Teil davon wird unbewusst durch individuelle und kollektive Traumatisierungen hervorgerufen und kann oft nicht kommuniziert werden. Als Ergebnis zeigen sich in privaten, beruflichen und politischen Beziehungen Spannungen und teils auch Spaltungen.
Neben inhaltlichen Einführungen in das Thema fand während des Online-Prozesses immer wieder ein Austausch in kleinen Gruppen statt. Im Anschluss kehrten alle Teilnehmenden wieder in den großen Raum zurück. Im direkten Austausch Einzelner mit dem Leiter des Prozesses, Thomas Hübl, bestand die Möglichkeit in konkrete Erlebnisse und Erfahrungen einzutauchen. Das Pocket Project hat international zahlreiche Prozesse zur Integration kollektiver Traumata begleitet. Eine Erfahrung dabei war, dass tiefe Einzelgespräche und die Zeugenschaft dabei für viele im Raum erhellend und hilreich sind.
EXKURS: Verschiedene Traumatypen
Der Traumaforscher Pete Walker identifiziert an Hand der typischen Stressreaktionsmuster Kampf, Flucht, Erstarrung oder Bindung verschiedene Trauma-Typen. Der Journalist Dieter Halbach leitet daraus vier Reaktions-Typen mit Blick auf die Pandemie ab.
1. Bindungstypus … hat durch eine unsichere Bindung in der Kindheit ein gesteigertes Harmoniebedürfnis. Wenn Beziehungen und Freundschaften gefährdet sind, wird die Angst vor Chaos, Polarisierung und Zerfall aktiviert. Es wird alles getan, um wieder Verbindung und Harmonie zwischen den Fronten herzustellen, oft einhergehend mit Erschöpfung, Rückzug und Depression.
2. Kampftypus. Sein früh verletztes Bedürfnis nach Autonomie führt in ein chronisches Misstrauen gegen Autoritäten, „das System“, „die Medien“ und somit ständige Furcht vor Freiheitsverlust. Er befindet sich gleichzeitig im Opfer- und Tätermodus. Angst vor Diktatur und Fremdbestimmung führt zu Selbstüberhöhung, Aggression und Narzissmus.
3. Fluchttypus…reagiert in einer als ausweglos erlebten Situation mit Nervosität und Aktivität, z.B. durch mehr Arbeit, mehr Konsum, mehr Kontrollverhalten oder mehr Engagement für andere. Die Panik führt zur ständigen Überreaktion und kann in ein zwanghaftes und (selbst)destruktives Verhalten führen.
4. der Anpassungstypus…versucht das eigene Trauma eher zuzudecken, sich unsichtbar zu machen, zu erstarren und sich emotional abzuspalten, um möglichst wenig zu fühlen und möglichst wenig aufzufallen. Er passt sich stets der Mehrheit des eigenen Umfeldes an.
Natürlich lassen sich einzelne Menschen nicht 1/1 einem Typus zuordnen, trotzdem kann eine solche Typologie ein guter Gesprächseinstieg sein, auch für politische Debatten.
„Sprechen und Zuhören“ – Ein neues Gesprächsformat
Den Anstoß gab die Pandemie…Bindungen und Zugehörigkeiten, die vorher klar schienen, waren plötzlich ganz anders. Während die einen im Lockdown förmlich aufeinandersaßen, mit allen schönen und unschönen Konsequenzen, hatten die anderen kaum noch direkten Kontakt zu anderen Menschen. Fragen wie „Wie schlimm/gefährlich ist Corona?“ „Ist eine Impfung sinnvoll?“ „Wie weit sollten wir uns einschränken/Rücksicht nehmen?“ „Müssen wir jetzt Widerstand leisten?“ haben Freundschaften und Familienbindungen auseinandergerissen – oder enger zusammengeschweißt. Viele Menschen haben solche Fragen im Bekannten- oder Kolleg:innenkreis irgendwann gar nicht mehr angesprochen, aus Sorge vor den Reaktionen oder schlicht aus Genervtheit. Die ersten Gesprächsräume, die Mehr Demokratie im Mitgliederkreis 2020 anbot, hatten somit eine regelrechte Ventil-Funktion. Endlich wieder Austausch!

Auch im Mehr Demokratie-Team haben wir Ende 2021 eine gewisse Corona-Sprachlosigkeit und Diskussions-Ermüdung festgestellt. Und das war der Beginn von etwas Neuem: Statt uns anzuschweigen oder mit Argumenten, die die andere Seite doch nicht teilen konnte, auf die Nerven zu gehen, haben wir einen Raum geöffnet, wo alle die wollten, ihre ganz persönliche Sicht auf die Pandemie teilen konnten. Ohne dass das bewertet und kommentiert oder wegargumentiert wurde. Am Schluss hatten sich die Positionen nicht unbedingt angenähert, aber das Verständnis und Gespür für die Position der anderen war wieder da – und die Meinungsverschiedenheiten somit auch leichter auszuhalten.
Wichtig ist, dass dabei bestimmte Regeln gelten: Jede:r spricht von sich. Jede Person hat gleich viel Redezeit und die anderen hören währenddessen zu. Kommentiert oder argumentiert wird nicht. Einige Gesprächsräume, zunächst zum Thema Corona und dann zum Ukraine-Konflikt, haben bereits stattgefunden. Die Resonanz der zwischen 130 und 60 Teilnehmenden war überwiegend positiv. Mit den Worten einer Teilnehmerin: „Jemand hat hier vorhin gesagt: Ich traue mich das eigentlich gar nicht zu sagen. Und doch, wir sagen es! Vielleicht ist genau das jetzt unsere Aufgabe, dass wir sprechen…das wir unsere Sorgen und Ängste aussprechen.“ Der Verein ist derzeit dabei, das Format zu verstetigen.
Nicht leicht, aber es lohnt sich
Es gibt sicher leichtere Themen als die Beschäftigung mit individuellen Verletzungen und kollektiven Traumata. Aber es gibt auch eine weitere gute Nachricht: Die innere Arbeit wird ziemlich wahrscheinlich mit mehr Lebensqualität belohnt. „Traumatisiert sein heißt, in vielen Momenten des Lebens nicht gut in sich selbst zu Hause zu sein, sich nicht gut regulieren zu können und sich vielen Herausforderungen nicht wirklich gewachsen zu fühlen“, schreibt dazu die Yogalehrerin und Psychotherapeutin Nicole Witthoeft. Das Mindeste, was wir durch die Aufdeckung und Arbeit an unseren Traumata und reaktiven Persönlichkeits-Anteilen gewinnen ist: Mehr Bewusstsein über die eigenen Denk-, Gefühls- und Reaktionsmuster und damit ein ganzheitlicheres Verständnis von uns selbst. Im besten Fall wird dadurch eine Tür zur Heilung und zum wachsenden Frieden mit sich selbst und anderen geöffnet.
„Take off my shield
Carry my sword
I won’t need it anymore
Find me a sky
Give me my wings
Frozen and broken but free“
* Wer bis hierhin gelesen hat, wird schon verstanden haben, was mit dem Begriff „Collage“ gemeint ist. Dieser Beitrag folgt keiner der üblichen journalistischen Darstellungsformen. Er ist am ehesten als eine Art Pinnwand zu verstehen, an der ganz verschiedene Ansätze, Techniken, Eindrücke, persönliches Erleben angeheftet sind. Er erhebt weder den Anspruch auf Vollständigkeit, noch auf Allgemeingültigkeit. Der Beitrag ist ein Blick auf das Thema durch meine Brille – und die Einladung an jede:n Leser:in, das, was passend erscheint mitzunehmen und eine eigene Pinnwand zu erstellen.