Es war Donnerstagmorgen als mich die „Corona-Krise“ endgültig von der Zukunft in die Gegenwart geworfen hat. Mitten in einer Video-Konferenz mit rund 20 wunderbaren Menschen (meinen Kolleginnen und Kollegen von Mehr Demokratie), haben mich zwei weitere wunderbare Menschen (meine Kinder) sehr vehement und nervenaufreibend daran erinnert, dass es Dringenderes geben kann als die Zukunft der Demokratie. Zum Beispiel die leere Apfelschorle, das verlegte Aufgabenblatt oder die nicht zu verstehende Mathe-Aufgabe. Der Tisch sieht aus wie Bombeneinschlag und Nein! – das kann nicht einfach mal so bleiben. Denn er ist jetzt Schreibtisch und Esstisch zugleich, also räume ich auf, damit sich nicht alle völlig in dem Chaos verlieren, in das uns ein Virus und die daraus resultierenden Verordnungen gestürzt haben.
Ich breche die Video-Konferenz ab und bringe die Kinder zu den Nachbarskindern, mit denen wir noch im Austausch stehen, weil sie sich ohnehin jeden Tag gesehen haben – noch… Die Straßen sind leer und die paar Leute, die draußen sind, schauen uns misstrauisch an. Auf dem Rückweg wird mir klar, wie absurd die Situation ist. Ich fühle mich selbst krank, obwohl ich kerngesund bin – wahrscheinlich… Menschen weichen mir aus als würde etwas mit mir nicht stimmen. Ich bin verspannt, unzufrieden, nervös – komplett blockiert. Wie absurd, denke ich plötzlich und atme tief durch. Die Sonne scheint, es wird Frühling.

Ich habe gerade meine Kinder zu Freunden gebracht, mir geht es gut. Ich habe eine Arbeit, die sinnvoll ist und mir meist Freude macht. Gerade fange ich an, Yoga zu unterrichten, es gehen Dinge, die ich nie für möglich gehalten hätte…Und doch…
Innerhalb weniger Tage, fast Stunden, ist unser Leben, unser Zusammenleben nicht mehr wie vorher. „Der Staat ist zurück“, hat ein Kollege treffend formuliert. „Objektiv“, also von außen betrachtet, wenn man sich auf Zahlen, Fakten, daraus abgeleitete Prognosen stützt, ist das, was gerade passiert nachvollziehbar, wahrscheinlich auch sinnvoll. Wir als Bürgerinnen und Bürger sollten uns also geführt und beschützt fühlen, oder? Rein rational gesehen leuchtet es mir ein, dass wir nicht einfach weitermachen können, vielleicht auch Ausgangssperren nötig sind. Aber was passiert im Innen? Was macht das mit mir, was macht das mit uns als Gesellschaft? Was läuft auf den Ebenen ab, auf die die Virologen keinen Zugriff haben und die mit keinem Abstrich zu messen sind?
Ich, innen
Ich war erschöpft am Donnerstag, perplex, irgendwie auch wütend. Mein Empfinden war: Ich bin plötzlich unfrei, werde unfrei gemacht in meinem Handeln, vor allem aber auch in meinem Denken. Ja, ich weiß, dass meine Freiheit da endet, wo die des anderen anfängt. Dunkle Fragen schieben sich in meinen Kopf: „Ist es in Ordnung, eine ganze Gesellschaft mit Angst zu impfen, um Risikogruppen vor einem Virus zu schützen? Endet die psychische Gesundheit (Stress- und Angstfreiheit) der einen da, wo die physische Gesundheit der anderen anfängt? Natürlich muss man reagieren, aber was sind die Erzählungen und welche kollektiven Vorstellungen werden da gerade in die Gesellschaft gepflanzt? Und wer pflanzt sie eigentlich?“ Ich kann die Gedanken nicht zu Ende bringen, weil mir verordnet wurde, zum Wohle aller mein „normales Leben“ an den Nagel zu hängen. Den Alltag am Laufen halten, die Kinder homeschoolen, mich selbst und andere aufgebrachte oder verängstigte Leute beruhigen und nebenher noch meine Arbeit so gut wie möglich zu machen, die auf ihre Art ja auch „systemrelevant“ ist. Oder?
Wann ist man systemrelevant?
Fest steht: Es gibt Menschen, die gerade unter extremem Druck arbeiten müssen, die sich selbst gesundheitlicher Gefahr aussetzen, um anderen zu helfen, sie zu versorgen, Leben zu retten. Es ist eine der besseren Begleiterscheinungen von Corona, dass Berufsgruppen, die seit Langem am Anschlag arbeiten, endlich die Wertschätzung bekommen, die sie eigentlich immer verdienen.

Ist es arrogant, trotzdem ein Stück weit mit dem eigenen Alltag weitermachen zu wollen? Sind wir, die wir keine Ärzt:innen, Pflegepersonal und nicht mal Verkäufer:innen sind, überhaupt systemrelevant? Ich bin Teil einer Blase, deren Leute sich gerne als „Pioneers of change“, Zukunftsmacher:innen oder Ähnliches bezeichnen – Leute, die aus jeder Krise noch eine Chance machen – diejenigen, die vor- und querdenken. Wir sind wichtig, ist doch klar.
Wie tief diese Überzeugung auch bei mir verwurzelt ist! Und wie sehr sie manchmal trotzdem wackelt, wenn ich plötzlich mit viel „basaleren“ Dingen beschäftigt bin. Um es mal mit Ken Wilber und seinen verschiedenen Weltanschauungs-Ebenen zu sagen: Normalerweise fühle ich mich ziemlich in den grün-gelb-türkisen Ebenen zu Hause. Das heißt, ich nehme für mich in Anspruch, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die zukünftige Wege des Denkens, Zusammenlebens und Arbeitens entwickelt und für die ganze Gesellschaft nutzbar macht. Die letzten Tage hingegen waren ganz schön „beige“ – fühlten sich eher an, als würde es nur noch darum gehen, irgendwie klarzukommen, die Normalität am Laufen zu halten, eine Reserve-Packung Klopapier besorgen (seit Tagen ohne Erfolg), nicht die Nerven verlieren, die Kinder bei Laune halten, nicht zu nah an fremde Menschen herankommen…

Gleichgewicht heißt nicht, dass alles gleichzeitig geht
Danke, Corona, für diese Erfahrung! Das meine ich ganz ernst. Danke für die Erinnerung daran, dass wir „ganz“ im Sinne von vollständig sind – Wesen, mit verschiedenen Dimensionen und Bedürfnissen von den greifbaren körperlichen („ohne Durst und Schmerz sein“) über die emotionalen („im Austausch mit Menschen stehen, die ich mag“) bis hin zu den subtilen („stimmiger Teil eines großen Ganzen sein“). Damit es uns gut geht, müssen wir all diese Dimensionen – im Yoga würden wir sagen alle Energiezentren oder Chakren – im Gleichgewicht halten.
Aber Gleichgewicht muss ja nicht heißen, dass wir immer allem und allen gleichzeitig gerecht werden können und müssen. Wenn die Kinder Hunger haben, dann müssen die Konzepte warten. Und wenn die Kinder beschäftigt sind, dann kann ich Mails checken. So einfach…und doch so kompliziert. Wir sind es gewohnt, nach Plan zu leben, uns zu organisieren, den Tag in Abschnitte zu strukturieren. Gerade gibt es keine Pläne und keine feste Struktur mehr.
Alles fließt
Die Zoom-Konferenz ist Hausaufgabenbetreuung und Post-im-Büro-Holen ist ein Spaziergang mit dem Kind. Freitag habe ich im Vergleich zum Donnerstag schon dazugelernt und mich von Anfang an von dem Gedanken verabschiedet, in der nächsten Stunde x oder y zu machen. Und mich darauf konzentriert, präsent zu sein. Egal, ob es um den abzuräumenden Tisch, um den Anruf einer entnervten Freundin oder die Mail eines Kollegen geht.
Jetzt ist dran, was dran ist. Und zwar nur das.
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Es ging gut. Zwei Stunden bin ich nachmittags durch Berlin gewandert, um die Post im verwaisten Büro zu holen, zusammen mit meinem Sohn. Wie irrational und wenig zeitsparend! Das würde ich im Normal-Modus nie machen, denn man hat ja zu tun. 😉 Wir haben fünf Minuten vor dem Denkmal für die „Spanienkämpfer“ gestanden, das ich in zwölf Jahren nicht einmal richtig angeschaut habe. Wir haben fünf Minuten mit dem Bäcker gesprochen und erfahren, dass er für die nächsten Wochen schließen wird – für drei Monate reiche das Geld, habe der Chef gesagt, dann würde es schwierig, die 300 Mitarbeiter zu halten.

Wir haben Gespräche über kratziges und weiches Klopapier geführt und darüber, ob das nun die neue Schaufenster-Auslage wird. Und darüber, dass die Entscheidungen, die jede:r einzelne trifft einen Einfluss auf das Ganze haben (Zitat: „Das ist wie mit einem Hammer auf ein heißes Eisen schlagen – jeder Schlag verändert etwas“). Wir haben uns einen Himbeer-Cookie geteilt, während wir um die Entgegenkommenden Sicherheitsabstands-Slalom gelaufen sind. „Mir geht’s wirklich gut“, hat mein Sohn irgendwann unvermittelt gesagt.
Realize the good things anytime
Seeed: Respectness.
Thou your back against the wall
Focus on the good things anytime
Make the devil fall
Be present – im doppelten Sinne
Das hat Corona jetzt schon geschafft: Wir werden zurückgeworfen in die Gegenwart. Mit all ihren schweren und schönen Aspekten.
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Und in dieser Gegenwart wird mir einmal mehr klar: Wir Menschen brauchen, um vollständig zu sein, Instrumente und Räume, in denen wir Akteurinnen und Akteure bleiben, in denen wir selbstbestimmt handeln und nicht nur Spielbälle des Schicksals sind.

Wie kann das in der Krise aussehen? Indem wir nicht warten, bis uns diese Räume im Außen wieder zugestanden werden, sondern uns innere Wege und Räume suchen. Das ist eine Übung, die unglaublich einfach sein kann, weil es dazu eigentlich nichts braucht als eine bestimmte innere Haltung. Aber sie ist auch unglaublich schwierig, weil diese innere Haltung in unserem normalen Alltag keinen Platz hat.
Ein Mensch, der einfach durch die Weise wie er sitzt, geht und atmet, seine innere Freiheit zum Ausdruck bringt, kann einen enormen Einfluss auf seine ganze Umgebung haben. […] Als ich heute morgen das Gefängnisgelände betrat, ging ich in großer Achtsamkeit. Ich bemerkte, dass die Luft hier drinnen genau die gleiche Beschaffenheit hat wie die Luft außerhalb dieser Anstalt. Als ich in den Himmel aufblickte, konnte ich sehen, dass es kein anderer Himmel ist als der Himmel außerhalb.
Thich Nath Hanh
Corona macht vieles schwer, manches unmöglich. Diese Tage bedeuten für etliche Menschen eine Bedrohung und setzt viele andere wie Krankenhausmitarbeitende oder Menschen an Supermarktkassen extremem Stress aus. Für wieder andere sind sie existenzbedrohend, weil ihr Geschäft gerade zusammenbricht oder sie von ihren Lieben isoliert werden. Sie alle brauchen Mitgefühl, Unterstützung, Solidarität. Der Rest, die Mehrheit von uns, diejenigen, die gerade weder krank noch in ernsthafter Bedrängnis sind, tun sich und der Gesellschaft keinen Gefallen, wenn sie sich selbst zusätzlich zu den sozialen Einschränkungen lähmen mit Angst oder Wut. Das Beste, vielleicht das einzig Sinnvolle, was wir gerade tun können, ist absolut präsent zu sein. Das englische „be present“ bekommt damit eine Doppelbedeutung: Wir sind vollständig in der Gegenwart und das kann ein Geschenk sein für uns und für andere.