Mehr als nur gefühltes Wissen
„Yoga hilft Menschen, ihren Zustand selbst zu beeinflussen, physisch und psychisch“, dies ist für mich einer der Kernsätze aus einem Vortrag des Neurowissenschaftlers und Mediziners Dr. Sat Bir Singh Khalsa. Das Yoga in vieler Hinsicht positiv wirkt, bestätigen nicht nur unzählige subjektive Erfahrungsberichte, sondern es gibt mittlerweile auch eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Studien dazu. Einen Überblick über einen Teil der Forschungsergebnisse zur Wirkung des Yoga unter dem Titel „Understanding the biomedical science and research on Yoga“ gaben Sat Bir Singh Khalsa, Assistant Professor of Medicine an der Harvard Medical School, und Julie K. Staples, Research Director at The Center for Mind-Body Medicine in Washington, im Rahmen des diesjährigen 3HO Summer Solstice

Wer Yoga selbst noch nie ausprobiert hat, denkt vielleicht zuerst an einen flexiblen oder gut trainierten Körper oder an Entspannungsübungen. Stimmt auch, aber es geht um deutlich mehr: Tatsächlich gibt es wissenschaftlich gestützte Hinweise darauf, dass Yoga ein äußerst wirksamer Weg ist, unerwünschten Phänomenen unserer Zeit, entgegenzuwirken. Auf diese sogenannten „lifestyle diseases“ reagiert die moderne Medizin, indem sie die Symptome versucht, zu lindern. Yoga dagegen – so erklärt es Khalsa – setzt an den Ursachen dieser Störungen und Krankheiten an und zielt auf eine Änderung des Lebensstils. Letztlich viel nachhaltiger!
So kann Yoga helfen:
Schlafstörungen lindern: Staples berichtet in ihrem Vortrag über eine Untersuchung, in der die sogenannte Shabad Kriya, eine Meditation mit Mantra, als Mittel gegen chronische Schlaflosigkeit untersucht wurde. Die Erfolge bei der Gruppe, die die Kriya nutzte, waren sogar größer als die der Gruppe, die „Schlaf-Hygiene“-Regeln (wie ruhiges Zimmer, gute Belüftung, ausreichend Bewegung, regelmäßige Schlafenszeiten…) ausprobierte.
Anspannung/Leistungsdruck/Schmerzempfinden reduzieren: Eine von Studie von 2013, an der Khlasa beteiligt war, zeigte in einer 9-wöchigen Testphase, dass Yoga das „Lampenfieber“, also die Angst vor Solo-Auftritten bei Musiker:innen lindern konnte. Mehr lesen hier. Ein weiteres Beispiel: Schulkinder der 4.-8. Klasse, denen regelmäßig Yogaeinheiten angeboten wurden, berichteten danach von weniger Stress und positiverer Stimmung.
Einer der Gründe ist sicher, dass Yoga das Nervensystem stärkt. So wird z.B. der Vagus-Nerv, der die Körperfunktionen maßgeblich steuert, durch Yoga gestärkt. Mehr dazu hier.
Eine dauerhafte Yogapraxis kann sogar dazu führen, dass man resistenter gegen Schmerzen wird. In einer von Khalsa zitierten Studie zeigte sich, dass die Hirnregion, die für die Schmerzverarbeitung zuständig ist, in Beziehung zur Dauer der Yoga-Praxis wächst. Yoga hat also das Potential, nicht nur die unmittelbaren Reaktionen im Gehirn, sondern auch die Gehirnstruktur zu verändern.
Selbstwahrnehmung verbessern: Ein wichtiger Faktor ist die Achtsamkeit, die durch regelmäßige Yogapraxis zunimmt. Innere und körperliche Anspannung entsteht oft nebenbei und wird erst dann bewusst, wenn es richtig wehtut. Je achtsamer ich mit mir selbst bin, desto eher kann ich schon in den Anfängen gegensteuern. Zum Beispiel, ganz einfach, indem ich mich beim Arbeiten häufiger bewege und strecke.

Stress aushaltbar machen/ Erschöpfung vermeiden: Khalsa berichtet davon, dass nach der Tiefenentspannung, die zu jeder Kundalini Yoga-Stunde gehört, die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol reduziert wird. Weitere Studien belegen, dass Yoga den Blutdruck senken, die Sauerstoffsättigung des Blutes erhöhen und den Atemrhythmus verlangsamen kann – all diese Faktoren stehen im Zusammenhang mit der Fähigkeit, Stress auszuhalten und Burnout vorzubeugen.
Exkurs zum Thema Burnout. Das fand ich bereits in der Ausbildung zur Yogalehrerin sehr erhellend: Biochemisch kann Burnout auch mit der Erschöpfung der Nebennieren erklärt werden. Diese Hormondrüsen sind unter anderem zuständig für die Ausschüttung von „Stresshormonen“. Adrenalin lässt uns – eigentlich biologisch sinnvoll – auf kurzfristigen Stress reagieren. Der „fight or flight“-Impuls war für unsere Spezies einst lebenswichtig. Doch heute flüchten oder kämpfen wir eher selten, sondern verharren stattdessen in der stressigen Situation, ohne das körperlich auszuleben. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Bewegung hilft, wieder zu entspannen – wir geben unserem instinktiv verankerten Drang nach Aktivität als Reaktion auf „Bedrohung“ nach. Und bauen dadurch Stress wieder ab. Um längerfristigen Stress auszuhalten, produzieren unsere Nebennieren das Hormon Cortisol. Geschieht das zu lange und ohne Ausgleich, erschöpft sich die Nebenniere. Burnout! Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Starke Nieren und Nebennieren können Stressresistenz fördern. Und dafür gibt es um Kundalini-Yoga tollerweise eine ganze Menge Übungsreihen.
Abhängigkeit/Depression lindern
Was mich als jahrelange Kundalini Yoga-Praktizierende richtig freut – es gibt nicht nur das gefühlte Wissen, sondern auch eine Reihe von Studien, die belegen: Yoga wirkt sich nicht nur auf die körperliche, sondern auch auf die geistig-seelische Gesundheit positiv aus. Yoga ist zwar nichts „Medizinisches“, eignet sich aber trotzdem als begleitende Therapie und vor allem zur Prävention. Yoga kann z.B. helfen, Abhängigkeiten zu vermeiden. Es ist daher nicht üb erraschend, dass Yogi Bhajans Lehren Anfang der 70er Jahre zunächst im Kontext der von Drogenerfahrungen, Sinnsuche und Orientierungslosigkeit geprägten New Age-Bewegung in den USA einschlugen. Auch bei posttraumatischen Belastungsstörungen wurden bereits Erfolge mit Yoga nachgewiesen. Julie Staples berichtet von einer Studie mit Diabetes-Patient:innen, deren Ärger, Erschöpfung und Depression durch Yoga zurückging. Achtung: Das heißt natürlich nicht, dass Yoga einen Besuch beim Ärzt:innen oder Therapeut:innen ersetzen kann. Aber es kann eine hervorragende Ergänzung darstellen.
Besseren Umgang mit Traumata ermöglichen
Sehr interessant sind die Erkenntnisse von Bessel van der Kolk im Zusammenhang mit Trauma. Er beschreibt wie Traumata sich ins Nervensystem und damit auch in den Körper „einschreiben“. Trauma ist demnach nichts, was sich rein intellektuell lösen lässt, denn das Gehirn besteht eben nicht nur aus dem Teil, der für bewusste Entscheidungen und Einsichten zuständig ist, sondern auch aus dem, was er „survival part of the brain“ nennt. Selbst wenn man intellektuell verstanden hat, woher die Traumatisierung kommt, bleiben die körperlichen Reaktionen. Eine effektive Möglichkeit, mit solchen Reaktionen umzugehen, die durch die Traumata verursachte Abspaltung von Gefühlen besser bewältigen zu können und ein harmonischeres Verhältnis zu den eigenen Empfindungen zu enwickeln, ist nach van der Kolk Yoga. Tatsächlich arbeitet eine Vielzahl von Kundalini-Yoga Übungen, vor allem auch der Einsatz von Mantras, am limbischen System, von dem aus Körperempfindungen und Emotionen gesteuert werden.
Ein Beispiel: Geistige Fitness stärken mit der Kirtan Kriya
Von den Forschungen zur Kirtan Kryia, einer sehr wichtigen Meditation im Kundalini-Yoga, im Zusammenhang mit Alzheimer-Erkrankungen haben wahrscheinlich manche schon gehört oder gelesen.
Dabei stellte sich heraus, dass sich bei Menschen mit Gedächtnisproblemen, die über mehrere Wochen für 15 Minuten täglich die Kirtan Kryia praktizierten, das Erinnerungsvermögen und die Stimmung verbesserte. Mehr dazu hier. Julie Staples erklärte das in ihrem Vortrag u.a. mit der Aktivität von sogenannten Telomeren – das sind bestimmte Teile des Erbguts, deren Länge sich durch Alterung verändert. Einfach gesagt: Die Telomere lang zu halten, hält jung. Die Yoga-Praxis hilft offenbar, damit die Telomere möglichst aktiv bleiben.
Ich könnte noch länger weiterschreiben. Das hier sind natürlich nur kleine und unvollständige Blitzlichter auf das, was die Forschung zu Yoga und Yogatherapie bereithält.

Regelmäßige Praxis – große Wirkung
Eine wichtige Voraussetzung für die positive Wirkung von Yoga ist offenbar, dass man regelmäßig praktiziert. Auch das legen Studien nahe. Wenn das gelingt, dann kann Yoga eine Transformations-Wirkung auf mehreren Ebenen haben – hier beziehe ich mich nochmal auf den erhellenden Vortrag von Sat Bir Singh Khalsa:
Wohlbefinden (Wellness): z.B. durch den Abbau von Prüfungsangst, Beweglichkeit des Körpers, weniger Verspannungen…
Veränderung des Körper- und Geist-Bewusstseins: Achtsamkeit, Resilienz und die Fähigkeit zur Selbstregulation nehmen zu.
Psychologische und philosophische Wirkung: z.B. stellen sich öfter Flow-Gefühle (also das Empfinden von Mühelosigkeit und Im-Einklang-Sein) oder Erfahrungen von Ganzheit ein. Natürlich kann man Yoga auch ohne diese „Tiefenwirkung“ praktizieren und das Hauptaugenmerk auf die körperliche Ebene legen, aber die Möglichkeit, damit auch über den Körper hinaus zu kommen, ist vorhanden.
Wichtig ist mir noch ein Gesichtspunkt: Es geht natürlich nicht nur darum, die Herausforderungen des „Wassermannzeitalters“ – Komplexität, hohe Kommunikationsdichte, Individualisierung und Verlust von traditionellen Orientierungsrahmen, zu kompensieren. Yoga hilft ohne Zweifel, unerwünschte Begleiterscheinungen unserer Zeit zu lindern. Vor allem aber hat Yoga enormes Potential, uns als Individuen und als Gesellschaft weiterzubringen, indem Wohlbefinden, Produktivität, Kreativität und Bewusstsein gesteigert werden.
Yoga ist mehr als Wellness und Bodyshaping für Privilegierte. Yoga kann Menschen helfen, auch in schwierigen Zeiten ausgeglichen, positiv und voller Energie zu bleiben.
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